16. Sonntag im Jahreskreis – Verweilen am einsamen Ort

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Hirte und Schaf, Fische und Netz?

Es gibt Bildworte im Neuen Testament, die auf der einen Seite eine tiefe Sehnsucht in mir anstoßen, die aber auf der anderen Seite gleichzeitig einen negativen Beigeschmack haben und mich erschauern lassen. Eines der prominentesten Worte kommt heute in der ersten Lesung aus dem Propheten Ezechiel und dann noch einmal – bezugnehmend auf die Lesung aus Ezechiel – im Evangelium: Die Menschen um sich herum empfindet Jesus wie „Schafe, die keinen Hirten haben“ – das korrespondiert mit dem Bildwort von Hirten, der an Gottes Stelle die Aufgabe hat, dessen Volk zu weiden.

Spätestens im Lebensgefühl der Postmoderne gibt es keine feste Zuschreibung mehr, die von „den einen“ sagt, sie seien Hirten, und von „den anderen“, sie seien Schafe. Und doch: Es gibt es die Sehnsucht nach dem, nach der, nach etwas, was mich führt, mir Orientierung gibt, mir Schutz und einen Schutzraum bietet und gleichzeitig die staunende Erfahrung, dass ich all das anderen bieten kann. Das Lebensgefühl, was hinter „Schaf“ und „Hirte“ steht, ist fließend, ist „fluid“, wie es der Soziologe Zygmund Bauman (1925-2017) trefflich beschreibt.[1] Menschen haben immer beides in sich. Und es gibt nichts, auch nichts Sakramentales, das einen Menschen „nur“ zum Hirten macht oder befähigt, und ihm dabei das „Schafsein“ nimmt – oder umgekehrt.

Ähnlich ist es mit dem Leitbild des „Menschenfischers“, das Jesus an anderer Stelle dem Petrus mitgibt. Stellen Sie sich einmal den Bildgehalt vor – wie jemand Ihnen oder den Ihren ein Netz überwirft, sie verstrickt in etwas, was Sie nicht wollen, um Sie und die Ihren auf diese Weise zu Christus zu führen. Und doch: Spätestens seit den Erfahrungen im Kletterwald weiß ich um die Qualität eines Netzes, das mich fängt und mir Halt gibt, wenn ich falle – und der Weg vom Netz im Kletterwald zum Netzwerk an Menschen, dessen ich ein Teil bin, ist nicht weit. Wieder so ein fluider Begriff!

» Es gibt ein Verfallsdatum, ab dem Sie Ihre Eltern nicht mehr beschuldigen können, Sie in die falsche Richtung bugsiert zu haben; in dem Moment, da Sie alt genug sind, das Steuer selbst in die Hand zu nehmen, liegt die Verantwortung bei Ihnen. «
Rowling, J.K. (2017): Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie, Hamburg, 20.

Überholte Bilder?

Sind diese Bildworte überholt? Einerseits ja – sie müssen auf der Folie der Gesellschaft gelesen und bewertet werden, in der sie entstanden sind. Und sie müssen in ihrer Durchlässigkeit, in ihrer „Fluidität“ verstanden werden: Der Mensch im 22. Jahrhundert erlebt sich nicht im „entweder – oder“, sondern im „sowohl – als auch“ von Hirten und Schafen, von Menschenfischer und gefangenem / befangenem Menschen. Es erlebt sich in „Fluidität“. Und er muss diese Fluidität aushalten und gestalten. Spannend, dass im gleichen Evangelium ein guter Hinweis darauf zu finden ist, wie das gelingen kann.

„Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind“

Ein weiteres Bildwort ganz anderer Qualität spricht mich in diesem Evangelium und in diesem Zusammenhang an, ich gebe es Ihnen weiter. Als die Apostel zurückkommen aus den Ortschaften, in die Jesus sie gesendet hatte, berichten sie ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Ich stelle mir sie in einem Kreis sitzend vor, einer nach dem anderen erzählt, für Rückfragen, für Ergänzungen oder vergleichende Berichte wird kaum Zeit gewesen sein. Ein Bild für die Vielfalt des Erlebten, des Geschehenen, des gedeuteten Erfahrenen.

Dazu ein ständiges Kommen und Gehen von Menschen, die zumindest eine kurze Zeit einfach einmal dabei sein wollen, und wenn es nur einen flüchtigen Moment ist. Deswegen schlägt Jesus den Seinen vor: „Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus.“ Und kurz darauf berichtet der Evangelist Markus: „Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein.“

» Wir fühlen uns oft allein. Zuweilen sehr allein, sogar verlassen. Dieses Alleinsein hat jedoch nichts mit dem All-Ein-Sein zu tun [...]. Im All-Ein-Sein spüren wir Weite, eine Art Entgrenzung und gleichzeitig Fülle. Wir urteilen kaum und sind mit dem Sosein völlig einverstanden und zusehends eins. Wir sind da und im Frieden. «
Poraj, Alexander (2018): All-Ein. Zen oder die Überwindung der Einsamkeit. München, Hintere Umschlagseite.

Zur Unterscheidung von Einsamkeit und Alleinsein

Für das öffentliche, für das private und für das geistliche Leben ist die Unterscheidung von Einsamkeit und Alleinsein, von der Aussage „Ich fühle mich einsam“ und „Ich bin/ich lebe allein“ fundamental.

Im Evangelium fahren 13 Menschen im Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein. „Allein“ meint hier so viel wie „ungestört“, „für sich“, ohne jemanden, der eben nicht zur Gruppe gehört. Diese Weise des Alleinseins hat immens viel mit „ungestörter Gemeinschaft“ zu tun. In jeder Freundschaft, in jeder Partnerschaft gilt: „Du und ich, wir zwei allein“. Sie können allein sein, ohne zwangsläufig einsam zu sein.

Alleinsein ist aber – im Bauman’schen Sinne – ein fluider Begriff. Es gibt eine große Klage über das ständige Alleinsein vor allem alter, alleinlebender, oft gehandicapter Menschen. Die Erfahrung des Alleinseins kann zu einer Suizidalität führen, i.S.v. „Ich möchte nicht länger so leben.“ Diese Form erlebten und erlittenen Alleinseins erinnert an den Begriff der Einsamkeit in der beinahe üblichen Form. Aus diesem Alleinsam entspringt die Vereinsamung.

Einsamkeit unterscheidet sich vom Alleinsein m.E. dadurch, dass die Säule des Sozialen Lebens – neben Körper/Gesundheit – Arbeit/Leistungsfähigkeit – materielle Sicherheit – Werte und Ideale – gebrochen ist und das Lebenshaus ins Wanken kommt. Sie können in enger Gemeinschaft mit einem oder mehreren Menschen leben, und darin können Sie einsam sein, auch wenn Sie nicht allein dastehen. Auch Einsamkeit ist ein fluider, nicht festgeschriebener Begriff. Einsamkeit hat mit der Erfahrung der Entfremdung zu tun – Du bist mir fremd, mein Tun ist mir fremd, ich selbst bin mir fremd, und das führt in das Erleben der Einsamkeit.

» Wenn wir unseren Einatem nicht voll kommen lassen, schneiden wir uns ab von dem Leben, das wir sind. [...] In jedem Ausatem lassen wir los, halten nichts mehr fest, lassen das Leben fließen, so, wie es fließt. Wenn wir unseren Ausatem nicht vollkommen lassen, engen wir uns ein und beschränken das Leben, das sich gerade als die Form lebt, die wir sind. «
Manfred Rosen, Meditationslehrer im Benediktushof Holzkirchen, [online] https://www.benediktushof-holzkirchen.de/radikale-akzeptanz/ [10.07.2021]

Ausharren an einem einsamen Ort

Das Evangelium erzählt, die Menschen seien auf dem Uferweg an den Ort gelaufen, den Jesus und die Apostel mit dem Boot ansteuerten, und sie kamen noch vor dem Boot dort an. Das war wohl nichts mit einsamem Ort. Sie scheinen Jesus wie Schafe, die keinen Hirten haben – hier hat das Bildwort seinen Platz: Sie sind nicht allein, aber dennoch einsam, und sie suchen den, der sie zusammenführt und zusammen führt.

Aber mal angenommen, es wäre keiner an diesem Ort, dem erhofft-einsamen Ort gewesen, so wie keiner auf dem Berg ist, auf den Jesus geht, um zu beten: Was passiert da an einem einsamen Ort? Kommen Sie mit Ihrer Erfahrung dahin? Kennen Sie das, auszuharren an einem einsamen Ort? Nochmal: Was passiert da?

Ich schlage Ihnen ein Koordinatensystem vor. Auf der senkrechten y-Achse steht die Einsamkeit, sie geht vom Nullpunkt aus und beginnt als „Vereinsamung“ und „Entfremdung“, entwickelt sich nach oben hin zur „Persönlichkeit im Unterschied von anderen“, zur „Einmaligkeit“ im besten Sinne des Wortes. Auf der waagerechten x-Achse steht das Alleinsein, es geht vom Nullpunkt aus und beginnt mit der negativen Erfahrung des Alleinseins i.S.v. Leben in der Beziehungs- und Bedeutungslosigkeit, entwickelt sich nach rechts zum Begriff des „All-Einen“, der im Zen die Verbundenheit mit allem Seienden darstellt. Beide Achsen stehen für die Fluidität von „Einsamkeit“ und „Alleinsein“.

Ausharren an einem einsamen Ort lädt dazu ein, eben nicht den anderen von dem zu erzählen, was ich erlebt habe. Ausharren an einem einsamen Ort geschieht im Alleinsein und führt bestenfalls ins All-Ein-Sein. Der einsame Ort ist ein Ort der Meditation, des Gebetes, des Zu-mir-kommens, damit ich neu zu Dir kommen kann (wen oder was auch immer das „Dir“ meint).

Wenn ich dem Meditationslehrer Manfred Rosen folge, ist das Ausharren an diesem einsamen Ort nichts anderes als ein Einüben in die Akzeptanz dessen, was mir, was Ihnen geschieht. „Radikale Akzeptanz und Loslassen als geistige Handlung korrespondieren mit unserem körperlichen Prozess des Atmens. In jedem Einatmen nehmen wir an – uns selbst und die Welt. Wenn wir unseren Einatem nicht voll kommen lassen, schneiden wir uns ab von dem Leben, das wir sind. Das, was wir immer wieder neu sind, in jedem Augenblick. In jedem Ausatem lassen wir los, halten nichts mehr fest, lassen das Leben fließen, so, wie es fließt. Wenn wir unseren Ausatem nicht vollkommen lassen, engen wir uns ein und beschränken das Leben, das sich gerade als die Form lebt, die wir sind.“[2]

Ein Ort des Einübens von Leben

Auch der „einsame Ort“ kann ein Bildwort sein, das allerdings zeitlos und nicht überholt ist. Dem einsamen Ort die Funktion zuweisen, hier im Einatem Leben voll kommen zu lassen und im Ausatem Leben vollkommen zu lassen, das könnte Jesus im Sinn gehabt haben, als er mit den Seinen zu diesem Ort aufgebrochen ist. Manchmal genügt der innere Aufbruch, und der Schreibtischstuhl kann zu diesem „einsamen Ort“ werden. Manchmal sind es die Exerzitien im Kloster oder das Retreat im Bildungshaus. Egal, wo der einsame Ort sich befindet und was ihn ausmacht: Hier kann ich meine Einsamkeit, mein Ungestörtsein genießen, und ich kann dankbar sein für mein Alleinsein, das mich ins All-Ein-Sein führt.

Amen.

Köln 17.07.2021
Harald Klein

[1] Vgl. Bauman, Zygmunt (2008): Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit, Hamburg; ders. (2007): Leben in der flüchtigen Moderne, Frankfurt/Main.

[2] Vgl. [online] https://www.benediktushof-holzkirchen.de/radikale-akzeptanz/ [10.07.2021]