19. Sonntag im Jahreskreis – Was nährt mich wirklich?

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Einfach anfangen, verkosten und deuten…

Die Schwierigkeit und – ehrlich gesagt – auch die Langeweile der „Brotrede“ im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums habe ich in den beiden letzten Sonntagspredigten schon beklagt. Sei’s drum! Dennoch ist es für das Verstehen des heutigen Abschnitts hilfreich, sich die Doppeldeutigkeit des „einfach Anfangens“ und des „einfach Anfangens“ aus dem Evangelium der Brotteilung (und nicht Brotvermehrung) des vorletzten Sonntages und die Erfahrungen des Verkostens und Deutens dieses Anfangens, dieses Teilens als einen Vorgeschmack des Ewigen aus dem letzten Sonntag wach zu halten. Es mag sein, das Ihnen da nur Momentaufnahmen geglückter Begegnung in den Sinn kommen. Meist stehen sie alleine da, eingebettet in den ganz normalen Wahnsinn der banalen Tage und Wochen. Aber sie zeigen über den Moment hinaus Wirkung, haben Strahlkraft und zielen auf Wiederholung. Auch wenn das „Ach bleibe doch, Du bist so schön“ des Faust nicht haltbar, nicht zu halten ist – die Sehnsucht und die Hoffnung auf ein „bald wieder“ dieser Momente des Teilens, dieser Moment des Vorgeschmacks des Ewigen wirkt sich leibhaftig aus und geht bis in die Träume.

» Die Vergangenheit hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt.
Mein Atem heißt
jetzt «
Ausländer, Rose (1981): Mein Atem heißt jetzt, Frankfurt/Main, 5.

… Vergangenes hinter sich lassen …

Ignatianische Spiritualität lebt von Auswertungen, Reflexionen, Betrachtungen – nicht nur des Lebens Jesu, sondern vor allem des eigenen Lebens und Erlebens. Die erste Lesung und der Prophet Elija in seiner Todessehnsucht bilden diesen Prozess beispielhaft ab. Elija hat dafür gesorgt, dass die Priester des Baal, die vom König Ahab und seiner Frau Isebel in Israel protegiert wurden, vernichtet werden. Sein Gebet führt den Regen nach Israel zurück und macht der Dürre ein Ende. Ahab und vor allem Isebel wollen ihm deshalb ans Leben, er hat ihren Einfluss und ihre Macht zerstört. Elija flieht in die Wüste, legt sich unter einer Ginsterstrauch und will nur noch sterben, weil er letztlich nicht besser ist als seine Väter.

Dann die Szene, die sich zweimal wiederholt – als würde Elija es beim ersten Mal nicht verstehen: Ein Engel rührt ihn an, Brot und Wasser sind neben ihn gestellt, der Engel sagt beim ersten Mal: „Steh auf und iss!“ Beim zweiten Mal fügt der Engel hinzu: „Steh auf uns iss! Sonst ist der Weg zu weit für Dich.“ Elija steht auf, isst, und macht sich auf den vierzigtätgigen Weg zum Gottesberg Horeb, wo ihm Gott erscheinen wird.

Da sind wieder das einfache Anfangen und das einfache Anfangen. Da sind das Verkosten und das Deuten dessen, was geschehen ist, was auch leidvoll, unverständlich geschehen ist. Und da ist der vierzigtägige Weg, dessen Ziel die Begegnung Elijas mit dem Gott des Lebens ist.

» Wenn wir uns auf die Spuren der Apostel begeben, verlassen wir unser eigenes Ich, die Sicherheiten, an die wir uns klammern, aber wir haben ein klares Ziel. [...] Wir sind keine Wanderer, die immer um sich selbst kreisen, ohne irgendwo anzukommen. «
Papst Franziskus, aus der Grußbotschaft zur Eröffnung des Heiligen Jahres 2021 in Santiago de Compostela

… und den Weg des Reflektierens gehen

Interessant in der Elija-Geschichte ist, dass ihm niemand dieses Ziel nennt, dass es keine „Pilgerleitung“ gibt, keinen, der vorangeht und den Weg weist. Er wird vom Engel nicht dorthin geschickt, „der Weg“ hat ein offenes Ziel. Es könnte sein, dass es einen inneren Beschluss des Elija gibt, zum Gottesberg zu gehen, davon ist aber nirgends die Rede. Und es könnte sein, dass sein Weg ihn „einfach irgendwie“ zum Horeb führt.

Bezogen auf die „Brotrede“, geht es mir um die Frage, wie ich herausfinde, wohin mein Weg geht, welches Brot mich wirklich, tief, nachhaltig nährt, und wie mein Weg dorthin aussieht. Wie schon gesagt: Ignatianische Spiritualität lebt von Auswertungen, Reflexionen, Betrachtungen – nicht nur des Lebens Jesu, sondern vor allem des eigenen Lebens und Erlebens. Elija wird in diesen vierzig Tagen sein Erleben betrachten, den Regungen seiner Seele nachgehen, den Geschmack des Lebendigen verkosten, aber auch Niederlagen, Enttäuschungen, die Leichen im Keller nicht ausschließen.

Das Bild des Pilgers kommt mir in den Sinn. Papst Franziskus schreibt in der Grußbotschaft zur Eröffnung der Wallfahrt nach Santiago de Compostela im Jubiläumsjahres 2021: „Wenn wir uns auf die Spuren der Apostel begeben, verlassen wir unser eigenes Ich, die Sicherheiten, an die wir uns klammern, aber wir haben ein klares Ziel. […] Wir sind keine Wanderer, die immer um sich selbst kreisen, ohne irgendwo anzukommen.“[1]

Eine gute Umschreibung für den Prozess der Reflexion: Das eigene Ich verlassen, um ihm kritisch gegenüber stehen zu können, um es zu betrachten, ob es noch die Form hat, die ich ihm geben wollte, ob die Inhalte stimmen, auf die hin und für die ich lebe. Und dann den eigenen vermeintlichen „Sicherheiten“ ihren rechten Platz zuweisen und sie entsprechend meiner gewählten Lebensform nutzen – oder eben sein zu lassen.

Und die „Nachfolger der Pilger“ kommen mir in den Sinn. In seinen Essays über postmoderne Lebensformen entwirft der Soziologe Zygmund Bauman die Lebensformen des „Spaziergängers“, des „Vagabunden“ und des „Touristen“[2], die genau das nicht haben (und nicht haben wollen), was Papst Franziskus dem Pilger zuschreibt: das klare Ziel, zu dem es auf Dauer nun hingehen soll!

» Für Pilger in der Zeit liegt die Wahrheit andernorts; der wahre Ort liegt immer ein Stück weit und eine Weile entfernt. Wo immer der Pilger gerade sein mag, es ist nicht da, wo er sein sollte, und nicht dort, wo er zu sein träumt. Die Entfernung zwischen der wahren Welt und dieser Welt hier und jetzt besteht aus dem Missverhältnis zwischen dem, was erreicht werden soll, und dem, was erreicht worden ist. «
Bauman, Zygmund (2007): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg, 136.

Reflexion in postmoderner Zeit: Was nährt mich?

Vom (Er-) Lebensgefühl des Pilgers zu dem des Spaziergängers, des Vagabunden und des Touristen scheint mir im Zusammenhang mit der „Brotrede“ eines wichtig zu sein: der Pilger hat ein klares Ziel – das ihm vorgegeben ist! Es liegt aber immer vor ihm, irgendwie jenseits des Gegenwärtigen! Der Pilger versucht holt etwas einzuholen, von dem ihm andere versprechen, dass es ihn nähren wird! Und von dem er im besten Falle schon die Erfahrung gemacht hat, dass es ihn, sein Hoffen, seine Sehnsucht und sein tiefstes Erwarten nährt bzw. sein Trauern, seine Tränen stillen kann. Im schlimmsten Fall biegt er sich so lange oder lässt sich biegen, bis das „klare Ziel“ ihm passt. Der Pilger bereitet sich bzw. lässt sich bereiten für den Empfang dessen, was ihn (offensichtlich) nährt!

In postmodernen Lebensentwürfen ist die Fragestellung genau andersherum. Leben geschieht nicht im Modus des Pilgerns auf ein Ziel hin, sondern – malen Sie es sich aus, wie es Ihnen zusagt – im Modus des Spaziergängers, des Vagabunden, des Touristen, und vor allem im Gegenwärtigen, im Jetzt, diesseits, nicht jenseits! Vielleicht finde ich „am Weg“ das, was für andere schon lange „Ziel“ ist, vielleicht finde ich anderes. Und immer wieder gilt: einfach anfangen, einfach anfangen, verkosten, deuten, reflektieren. Ist diese Form des Zen, ist diese Weise der Meditation aus dem Buddhismus, ist diese Form des Betens im Christentum und diese Form, Gemeinschaft zu leben, etwas, was mich zutiefst nährt?

» Ich laufe bleibend davon. «
Florin, Christiane (2019): Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben, München, 172.

Das ist es, um was es letztlich geht: Was nährt mich? Den Vorwurf des „um sich selber Kreisens“, den der Papst dem Wanderer vorhält, weise ich schlicht zurück. Es geht um die Wahrnehmung all dessen, was jetzt auf meinem Lebensweg liegt und geschieht – wie bei Elija – und es geht darum, herauszufinden, was meinem inneren Leben jetzt wirklich Nahrung gibt, so, dass ich es nach außen leben kann – wie bei Elija.

Ich möchte nicht leben wie der Pilger, das eine Ziel vor Augen und den einen Fuß vor den anderen stellen, bis ich angekommen bin. Ich finde das Bonmot von Christine Florin auf die Frage, ob sie die Kirche verlassen wolle, sehr ausdrucksstark: „Ich laufe bleibend davon“.[3]

Die geistliche Frage schlechthin ist: Was nährt mich – jetzt, hier, heute? An dem bleibe ich dran. Und ich lasse hinter mir all das, was (zumindest für mich) nur vorgibt, Speise zu sein.

Amen.

Köln 28.07.2021
Harald Klein

[1] Vgl. [online] https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-01/papst-franziskus-heiliges-jahr-santiago-jakobsweg.html [28.07.2021]

[2] Bauman, Zygmund (2007): Flaneure, Spieler und Touristen. Essays zu postmodernen Lebensformen, Hamburg, 119-169.

[3] Florin, Christiane (2019): Trotzdem! Wie ich versuche, katholisch zu bleiben, München, 172.