2. Adventsonntag – Luft zum Atmen

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Ein Wunschzettel für die in der Verbannung

Haben Sie eine „Kultur des Advents“? Zur Kultur des Advents gehört es sicher, den Garten und die Wohnung „adventlich“ zu schmücken, wenn schon kein Kranz, dann doch ein grünes Gebinde mit Kerze, eine Schale mit adventlichem Gebäck auf dem Tisch, der Adventskalender mit Süßigkeiten oder kleinen Überraschungen, manchmal sogar noch ein gemeinsames sonntägliches Singen, in das der Freund aus Köln über Zoom zugeschaltet ist. Die Adventskultur gehört zu den „heiligen Zeiten“ – da sollte sich nach Möglichkeit nicht viel dran ändern, Sie hat etwas von einer bewussten Rückwendung in die eigene Kindheit oder in die eigene Familiengeschichte, in die hinein ein neues Adventskapitel dazugeschrieben wird, das aber dem letzten und dem vorletzten bitte ähnlich sein muss.

Strukturell ähnlich, inhaltlich aber ganz anders ist die Tradition des Wünschens oder der Wunschzettel. Wir singen alljährlich die gleichen Lieder, aber schenken Sie Liebsten dasselbe Buch ein zweites Mal! Da ist aber was los.

Mit dem Gedanken im Kopf oder im Herz lesen Sie mal die erste Lesung des heutigen Sonntags. Da schreibt der Prophet Baruch aus dem Babylonischen Exil im 6. Jhdt. v.Chr., in das die Oberschicht Israels verschleppt wurde. Baruch heißt übersetzt „der Gesegnete“. Und die Worte der Lesung gelten den Verschleppten, den Heimatlosen, den Vertriebenen, kurz: denen, die äußerlich wie innerlich keine Heimat mehr haben.

Sein „Wunschzettel an Israel“ ist rührend. Zum einen die Wünsche: da ist die Rede vom Kleid der Trauer und des Elends, und der Wunsch, Israel möge es ablegen und sich mit dem Schmuck der Herrlichkeit bekleiden, die Gott als der Erfüller der Wünsche den Verbanten für immer verleihe. Da ist die Rede vom Mantel der göttlichen Gerechtigkeit und von der Krone der Herrlichkeit. Da ist die Rede, dass Gott dem Volk einen neuen Namen gebe: Frieder der Gerechtigkeit und Herrlichkeit der Gottesfurcht soll es heißen. Und damit ist die Lesung, ist Baruchs Wunschzettel noch nicht am Ende, wie gesagt, lesen Sie es ruhig mal nach.

» Zweierlei Aufgaben hat jede Geistigkeit und Kultur: den Vielen Sicherheit und Antrieb zu geben, sie zu trösten, ihrem Leben einen Sinn zu unterlegen – und dann die zweite, geheimnisvollere, nicht minder wichtige Aufgabe: den Wenigen, den großen Geistern von morgen und übermorgen, das Aufwachsen zu ermöglichen, ihren Anfängen Schutz und Pflege zu leihen, ihnen Luft zum Atmen zu geben. «
Hesse, Hermann (1926): Die Sehnsucht unserer Zeit nach einer Weltanschauung, in: Unseld, Siegried (Hrsg.) (1971): Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 28.

Den Wunschzettel für sich selbst klären

Stehauf, steig auf den Hügel, halte Ausschau – all das sind Wünsche Baruchs, die an diesem Adventsonntag Ihnen und mir gelten dürfen. Halten Sie doch mal Ausschau nach den Wünschen, die Sie für sich selbst gerne erfüllt hätten, spüren Sie mal schweigend in sich hinein, und dann bringen Sie sie ins Wort. Das gehört auch zur Adventskultur – eine stille Zeit neben der Kerze, neben den Kerzen.

Schon 1926 hat Hermann Hesse (Sie wissen: er begleitet uns in diesem Jahr durch den Advent) in „Die Sehnsucht unserer Zeit nach einer Weltanschauung“ eine Art Wunschzettel geschrieben: „Zweierlei Aufgaben hat jede Geistigkeit und Kultur: den Vielen Sicherheit und Antrieb zu geben, sie zu trösten, ihrem Leben einen Sinn zu unterlegen – und dann die zweite, geheimnisvollere, nicht minder wichtige Aufgabe: den Wenigen, den großen Geistern von morgen und übermorgen, das Aufwachsen zu ermöglichen, ihren Anfängen Schutz und Pflege zu leihen, ihnen Luft zum Atmen zu geben.“[1]

Beide Aufgaben kommen aus dem Advent und seiner Kultur Ihnen und mir entgegen: in den vielen Weisen der Zuwendung den anderen und mir Trost und Sinn anzubieten; aber auch Aufwachsen von Neuem oder Anfängen von bisher nicht Gekanntem und Gekonntem Schutz und Pflege anzubieten und Luft zum Atmen zu geben bzw. nach dieser Luft zum Atmen selbst zu suchen.

Zwei Dinge sind dafür notwendig: „Leg ab“ – so beginnt Baruch. Loslassen, die Hände, die Herzen, den Geist, meine Lebensräume frei machen, damit – „leg an“, so fährt Baruch fort – Neues in mein Leben einziehen und Altes abgelöst werden kann in meinem Leben.

» Nochmal skizziert: der Weg führt aus der Unschuld in die Schuld, aus der Schuld in die Verzweiflung, aus der Verzweiflung entweder zum Untergang oder zur Erlösung: nämlich nicht wieder hinter Moral und Kultur zurück ins Kinderparadies, sondern über sie hinaus in das Lebenkönnen kraft seines Glaubens.«
Hesse, Hermann (1931): Mein Glaube, in: Unseld, Siegried (Hrsg.) (1971): Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 63.

Die Versuchung des Advents

Zu einer geistigen, spirituellen Kultur des Advents gehört gerade nicht ein Stehenbleiben bei dem, was wir von klein auf kennen! Nicht, dass es nicht sein dürfte, aber die entscheidende Frage ist: Wo stehe ich gerade, wohin fühle ich mich gerufen, was will ich lassen, um weiter und leichter gehen zu können, und was bzw. wen nehme ich mit? Die Versuchung des Advents ist immer wieder, „Zurück zum Kinde“ zu gehen und irgendwie „wie die Kinder“ zu werden – und so hat es Jesus sicher nicht gemeint! Hermann Hesse fasst in „Mein Glaube“ (1931) die Entwicklung des Menschen und die Rolle des Glaubens dabei wie folgt zusammen: „Nochmal skizziert: der Weg führt aus der Unschuld in die Schuld, aus der Schuld in die Verzweiflung, aus der Verzweiflung entweder zum Untergang oder zur Erlösung: nämlich nicht wieder hinter Moral und Kultur zurück ins Kinderparadies, sondern über sie hinaus in das Lebenkönnen kraft seines Glaubens.“[2]

» Denn Gott hat befohlen: Senken sollen sich alle hohen Berge und die ewigen Hügel und heben sollen sich die Täler zu ebenem Land, sodass Israel unter der Herrlichkeit Gottes sicher dahinziehen kann. «
Bar 5,7

Lebenkönnen kraft Deines Glaubens

Advent hat liturgisch und theologisch die Menschwerdung Gottes zum Ziel – das ist so ein Satz, mit dem nur Eingeweihte was anfangen können. Advent hat kulturell viel von einem „Zurück zum Kinde“, schauen Sie sich in den Wohnungen, den Gärten, dem Kinderprogramm und den Kaufhäusern um.

Wie gesagt: Zur Kultur des Advents gehört es sicher, den Garten und die Wohnung „adventlich“ zu schmücken, wenn schon kein Kranz, dann doch ein grünes Gebinde mit Kerze. Spirituell hat Advent viel mit Lebenkönnen kraft des Glaubens zu tun. Im Evangelium taucht heute Johannes er Täufer auf und ruft zur Umkehr von den Sünden. In der Lesung, Sie sahen es oben, tritt Gott als der auf, der beschenkt. Hier wie dort geht es um Sie, geht es um mich: „Umkehr“ dürfen Sie übersetzen mit Loslassen und Ablegen der Gewänder der Trauer und des Elends; und dann dürfen Sie, darf ich vertrauen auf ein Weiterwachsen, auf neue Anfänge, die geschützt und gepflegt werden wollen, und nicht zuletzt auf die Luft zum Atmen. Nach Hesse ist das weder durch die Moral noch durch die Kultur zu erreichen, sondern allein durch einen, durch Ihren (nicht: „durch den“) Glauben. Advent ist nicht „Zurück zum Kinde“, sondern „Hin zum Kinde“, zum Menschgewordenen in der Krippe, zum Menschwerdenden in mir selbst – und die drei Kerzen vom 1. Advent können helfen: in Freiheit, als Persönlichkeit und in Verantwortlichkeit. Und jetzt ist klar: Die vierte, die Joker-Kerze am Kranz trägt Ihren Namen.

Amen.

Köln 04.12.2021
Harald Klein

[1] Hesse, Hermann (1926): Die Sehnsucht unserer Zeit nach einer Weltanschauung, in: Unseld, Siegried (Hrsg.) (1971): Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 28.

[2] Hesse, Hermann (1931): Mein Glaube, in: Unseld, Siegried (Hrsg.) (1971): Hermann Hesse. Mein Glaube, Frankfurt/Main, 63.