Die Haltung des „Othering“ und die „Fünf Formen der Unterdrückung“ nach Iris Marion Young

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Einführung

Im Rahmen unseres thematischen Wochenendes „Fluchtgestalten – Flucht gestalten“ kommt mir die Aufgabe zu, nach der Betrachtung biblischer „Fluchtgestalten“ einen systematischen Beitrag zum Thema „Flucht gestalten“ einfließen zu lassen. Gerne komme ich dieser Aufgabe nach. Ich möchte in der kommenden Stunde gerne zwei Fragen oder besser Komplexe ansprechen, von denen ich behaupte – und das ist meine grundlegende These -, dass sie nicht nur auf dem Hintergrund der Migrationsbewegungen und der Arbeit im Migrationskontext eine Rolle spielen, sondern dass sie auch in der Kirche als Ganze und schließlich auch in unserer Gemeinschaft, der GCL, zu beobachten, zu erleben, oft zu erleiden sind. Meine beiden Ziele und meine Absicht ist es, Sie sensibel zu machen (1) für den Vorgang des sog. „Otherings“, und (2) für eine differenzierte Weise des Gebrauchs des Begriffes der Unterdrückung. An den Vortrag angehängt sind drei Thesen für eine Zeit der Stille. Abschließend werden wir Ihre Gedanken dann im Plenum diskutieren.

Wenn zum Ende des Wochenendes hin der Vortrag und Ihre Impulse Anstöße für ein Weiterarbeiten der Offenen Vernetzung Migration gegeben hat, wäre seine Absicht ein weiteres Mal erfüllt.

 

1.  Der Begriff des „Othering“

Wenn ich in unserem Kreis das Zitat „Der Mensch wird am Du zum Ich“ sage, ist wahrscheinlich den meisten sofort klar, wer der Autor dieses Wortes ist. Der Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) hat In seinem Grundlagenwerk „Ich und Du“ [1] damit eine Grundlegung einer Philosophie gelegt, in der das Gegenüber, das „Du“ als notwendige Konstante zur Selbstwerdung beschrieben wird. Um es ganz verkürzt zu sagen: Wer „Ich“ bin, weiß ich erst mit dem Blick auf ein „Du“: Ich bin ein Mann, Du auch – oder eine Frau; und Sie merken sofort die Spannung auf das „diverse Geschlecht“, denn plötzlich gibt es mehr als nur ein „Du“, gerade in den grundlegenden Existenzialen. Ich liebe die Stadt, Du das Land, und ich kann von Dir lernen, welche Vorzüge man am Landleben sehen kann; entweder ich lerne um und wachse in diese Richtung, oder ich bliebe bei meinem Standpunkt und kann ihn besser begründen. Auf die religiöse Bedeutung des „Du“ Gottes bei Buber kann ich hier leider nicht eingehen.

„Othering“ meint im Grunde dasselbe – und ist doch ganz verschieden. Der Trierer Ethnologe Michael Schönhuth schreibt:

„Der Begriff Othering (von engl. other = „andersartig“ mit der Endung -ing“, um das Substantiv bzw. Adjektiv zu einem handelnden Verb zu machen) beschreibt den Gebrauch von und die Distanzierung oder Differenzierung zu anderen Gruppen, um seine eigene ›Normalität‹ zu bestätigen. Im Deutschen könnte man es transitiv mit „jemanden anders(artig) machen“ bzw. „Veranderung“ (anders als  „Veränderung“) übersetzen. Der Begriff wurde ursprünglich von Gayatri Spivak geprägt für den Prozess, durch den der imperiale Diskurs die Anderen bzw. ‚das im Machtdiskurs ausgeschlossene Andere‘ kreierte.“[2]

„Othering beschreibt den Prozess, sich selbst bzw. sein soziales Image positiv hervorzuheben, indem man einen anderen bzw. etwas anderes negativ brandmarkt und als andersartig, das heißt ›fremd‹ klassifiziert, sei es wegen der Rasse, der geographischen Lage, der Ethik, der Umwelt oder der Ideologie. In dieser Differenzierung liegt potenzielles hierarchisches und stereotypisches Denken, um seine eigene Position zu verbessern und als richtig darzustellen.“[3]

In seiner Masterarbeit im Fach Geschichte zeigt der Autor Martin Berghane auf, dass diese Weise des Vorgehens keineswegs Voraussetzung oder Folge einer (post-) modernen Gesellschaft ist, sondern dass diese Weise des Sich-Gegenüber-Tretens und des „Veranderns“ bereits in den Missionskontexten des 8. Und 9. Jahrhunderts, in der Christianisierung unserer Breiten, zu beobachten ist. Dabei arbeitet er vier Kategorien heraus, die im Folgenden vorgestellt und dann im Migrationskontext beschrieben werden: „Othering“ als Identifikation, als Distinktion, als Stereotypisierung und als Selbstkonstruktion.

1.1.  Othering als Identifikation

Was in der „Heidenmission“ des 8./9. Jahrhundert galt, gilt bis heute: „Damit es überhaupt möglich ist, das Verhalten oder die Eigenschaften eines anderen Menschen zu interpretieren, müssen zunächst die Kategorien, die man auf sich selbst anwendet, auf andere Subjekte übertragen bzw. in anderen Subjekten wiedererkannt werden.“[4] Für Berghane ist es evident, dass die Missionare davon ausgingen, auch die „Heiden“ seien den Versuchungen des Teufels ausgeliefert.[5] Othering als Identifikation meint, dass das „Du“ in den gleichen Prozessen, in zumindest sehr ähnlichen und vergleichbaren Situationen sowie in ähnlichen inneren und äußeren Kämpfen oder auch mit ähnlichen Emotionen sein Leben fristet wie das „Ich“. Othering als Identifikation setzt eine einseitige Projektionsleistung eines „Ich“ auf ein „Du“ voraus. Ein erster fulminanter Unterschied zur Philosophie Martin Bubers: Das „Ich“ hat sich schon gefunden und bewertet „von sich aus“ das andere bzw. den/die anderen! Daraus ergibt sich Berghanes zweite Kategorie:

1.2.  Othering als Distinktion

Distinktionen sind Unterscheidungen, die getroffen werden, um Abgrenzungen zu bezeichnen. In der „Heidenmission“ des 8./9. Jahrhunderts bezeichnet schon der Begriff des „Heiden“ die getroffene Unterscheidung. „Heiden“ unterscheiden sich von den Getauften, von den Christen. Ziel der frühen Mission war es, den Heiden das Christentum nahezubringen. Berghane betont, dass das Heidentum als Irrtum gekennzeichnet wurde. Es geht den Missionaren erst in zweiter Linie darum, die „Heiden“ dem Christentum zuzuführen oder vom „Weg des Irrtums“ abzubringen, der in der Verehrung der Götter besteht, die von den Missionaren als Dämonen gewertet werden.[6] Othering als Distinktion zeichnet sich zuerst durch eine Selbstaussage aus: „Wir“ sind richtig, „ihr“ nicht. Ein zweiter fulminanter Unterschied zur Philosophie Bubers zeigt sich, der auch für unseren Zusammenhang wichtig ist: Im Othering geht es nicht um ein Lernen, Verstehen, Überzeugen oder ein wechselseitiges Geschehen. Othering als Distinktion braucht ein Gegenüber, in dem sich die eine der „Parteien“ als diejenige sieht, die im Besitz der Wahrheit, der richtigen Kultur und der geltenden Sitten ist – und die andere eben nicht. Jedes dialogische Geschehen oder Handeln ist im Othering nicht vorgesehen.

1.3.  Othering als Stereotypisierung

Im Kontext der „Heidenmission“ gilt: „Mit der Zuordnung eines Individuums oder eine Gruppe zur der Kategorie „Heidentum“ wurden tatsächlich bestimmte in den Missionarsviten dargestellte Verhaltensweisen, Haltungen und Eigenschaften determiniert. Diese Zuschreibungen beschränken sich nicht nur auf genuin heidnische Bräuche, das heißt auf den religiösen Bereich, sondern bestimmen auch die Wahrnehmung der Beschaffenheit des ganzen Menschen.“[7] Was Berghane dann aus den Missionarsviten beschreibt, trifft auf das Othering im Kontext der Arbeit mit Geflohenen bis heute zu. Angestoßen durch Medienberichte, Projektionen oder anderen Formen von Übertragung werden Völker oder Kulturen stereotypisch bewertet. Man spricht von „den Geflohenen“, „den Moslems“, „den Nordafrikanern“ – dasselbe gilt für andere sog. Randgruppen, auch wenn sie Europäer sind.  Durch die dem Othering innewohnende Verweigerung des Dialogs mit Individuen oder Gruppen dieser Völker,  Kulturen oder Gruppen kann es weder zu keiner Korrektur der Stereotypen kommen, noch kann eine dialogische Ichwerdung am Du im Sinne Bubers geschehen. Fatal in unserem Zusammenhang ist es, dass beides im Othering auch nicht gewollt oder intendiert wird, im Gegenteil.

1.4.  Othering als Selbstkonstruktion

Dem Prozess des Othering wohnt dennoch ein Moment der Selbstkonstruktion im Sinne einer „Ich-Werdung“ inne, nur eben im umgekehrten Sinne, wie es bei Bubers Philosophie anzunehmen ist. Man kann hier eher von einer „Ich-Behauptung“ sprechen. Die Missionarsviten der Heidenmissionare des 8. und 9. Jahrhundert arbeiten mit dualistischen Gegenüberstellungen wie Licht und Schatten/Dunkelheit, mit Gott und Teufel. Berghane macht darauf aufmerksam, dass „beides […] in der Regel zusammen genannt [erg. wird], und der Unterschied zwischen beiden wird erst durch das Vorhandensein des jeweiligen Gegenteils deutlich.“[8] Das beinahe schon als pervers zu bezeichnende Geschehen des Otherings ist, dass die eine Seite um so deutlicher wird, je stärker die andere Seite verdrängt wird. Im Missionskontext heißt das: „Die ‚Sonne der Gerechtigkeit‘ ist zwar schon ein biblisches Bild, trotzdem ist es nicht als bloßer Topos zu betrachten, sondern erscheint hier in einem Kontext, in dem sich die Helligkeit der Sonne erst durch die Verdrängung von Dunkelheit erweist.“[9] Im Kontext der Begegnung mit Menschen mit Migrationshintergrund  erwächst das als „gut“ und „richtig“ empfundene Selbstkonstrukt vor allem dadurch, dass das/der/die Andere als Individuum und erst recht als Gruppe zurückgedrängt und verbannt wird.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die im soziologischen Begriff des Othering aufgedeckte Weise des unterdrückenden und ablehnenden Begegnens der Menschen einer Gruppe mit den Menschen einer anderen Gruppe vier Kategorien aufweist. Othering als Identifikation, als Distinktion, als Stereotypisierung und als Selbstkonstruktion. Berghanes Arbeit zeigt, dass dieses Othering auch im Raum der Kirche in den Missionkontexten des 8. und 9. Jahrhunderts eine Rolle spielte und dass Othering daher keine Folge von modernen oder postmodernen Gesellschaftsformen ist.

2.  Fünf Formen der Unterdrückung (nach Iris Marion Young)[10]

Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young (1949-2006) beschäftigte sich vor allem mit Theorien zur Gerechtigkeit und zur Demokratie; hierbei berücksichtigte sie besonders die feministische und die inkludierende Perspektive. Besonders bekannt wurde sie durch einen Aufsatz, in dem sie fünf Kategorien von Unterdrückung („Five faces of oppression“) beschrieb. Ihr These dabei ist: So verschieden auch die Gruppen sind, die unter Unterdrückung leiden, so verschiedenen die Weisen sind, in denen Unterdrückung geschieht – es wird immer ein Kontext zur „strukturellen Unterdrückung“ zu entdecken sein, die sich anonymen gesellschaftlichen Strukturen verdankt und die durch die bestehenden Machtverhältnisse aufrechterhalten werden. Young hält daran fest, dass diese Formen von Unterdrückung und Ungerechtigkeit allzu leicht der gesellschaftlichen Wahrnehmung entgehen, weil in diesen Fällen nicht oder nur selten persönliche Verantwortung zugesprochen werden kann. Im Folgenden sollen diese Formen der Unterdrückung kurz beschrieben werden.

2.1.  Unterdrückung als Ausbeutung

Es ist den kapitalistischen Gesellschaften nicht gelungen, die in der Philosophie von Marx/Engels beschriebenen Klassenunterschiede aufzuheben; sie bestehen auf der einen Seite zwischen denen, die Produktionsmittel besitzen, und der Masse der Menschen, die für sie arbeiten. Sie bestehen auf der anderen Seit aber auch zwischen denen, die im Bild der Othering-Theorie die Definitionsgewalt für sich beanspruchen und denen, die eben „verandert“ werden. Young schreibt: „„Die zentrale Erkenntnis, die im Begriff der Ausbeutung ausgedrückt wird, liegt darin, dass Unterdrückungsverhältnisse durch den steten Prozess, die Ergebnisse der Arbeit einer sozialen Gruppe auf eine andere zu übertragen, eintreten. Klassenunterschiede sind nicht allein deshalb ungerecht, weil manche Menschen großen Reichtum besitzen, während die meisten Menschen weniger haben. Ausbeutung ist eine strukturelle Relation zwischen sozialen Gruppen. Die gesellschaftlichen Regeln der Definition von Arbeit, wer was für wen tut, wie Arbeit entschädigt wird, sowie der gesellschaftliche Prozess, durch den die Ergebnisse der Arbeit verteilt werden, funktioniert so, dass Verhältnisse von Ungleichheit und Macht dabei herauskommen. Diese Verhältnisse werden durch einen systematischen Prozess produziert und reproduziert, in dem die Energien der Habenichtse stetig eingesetzt werden, um die Macht, den Status und den Reichtum der Besitzenden zu erhalten und zu vermehren.“[11]

Jenseits der marxistischen Analyse geht diese Form der Unterdrückung über einen Klassenbegriff hinaus und umfasst auch sexualisierte und rassistische Formen der Ausbeutung, ebenso auch z.B. die Form der „weiblichen“ Haus- und Pflegearbeit.

2.2.  Unterdrückung als Marginalisierung

Diese Form der Unterdrückung bezieht sich auf Menschen, die ein Arbeitssystem nicht brauchen kann oder nicht brauchen will – hierin liegt Youngs Definition des Begriffs „Marginalisierung“. Meist geschieht dies durch Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk, einer Hautfarbe. Marginalisierung ist nach Young die gefährlichste Form der Unterdrückung. Sie hört auch dann nicht auf, wenn für Essen und Unterkunft gesorgt ist, der marginalisierte Status bleibt erhalten, z.B. auch bei älteren Menschen, die finanziell gut gestellt sind, aber unter Marginalisierung in Form von Nutzlosigkeit, Langeweile und mangelnder Selbstachtung leiden.[12]

2.3.  Unterdrückung als Machtlosigkeit

Unterdrückung wird als Machtlosigkeit dann empfunden, wenn Menschen vor allem in hierarchisch gegliederten Einrichtungen immer wieder Anordnungen folgen müssen und selber selten berechtigt sind, Anordnungen zu verfügen. „Der Begriff ‚Machtlosigkeit‘ bezeichnet auch eine Position im Rahmen der Arbeitsteilung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Stellung, und zwar eine, die den betreffenden Personen wenig Möglichkeit lässt, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und auszuüben. Die Machtlosen haben wenig oder gar keine Arbeitsautonomie, in ihrer Arbeit sind sie wenig kreativ und vertrauen kaum ihrer Urteilsfähigkeit, sie haben weder technische Sachkenntnis noch Autorität, sie drücken sich ungeschickter aus, besonders in der Öffentlichkeit oder im Umgang mit bürokratischen Einrichtungen, und sie fordern keinen Respekt. […] Vielleicht kann man diesen Status der Machtlosigkeit am besten negativ charakterisieren: Die Machtlosen haben nicht die Autorität, den Status und das Selbstbewusstsein, das Angehörige der höheren Berufsklassen meistens haben.“[13] Young ist der Überzeugung, dass den Machlosen jede „Respektabilität“ verlustig geht; die Privilegien der oberen Berufsgruppen dehnen sich über den Arbeitsplatz hinaus auf die ganze Lebensart auf.[14]

2.4.  Unterdrückung als Kulturimperialismus

„Kulturimperialismus bedeutet, dass die Erfahrungen und die Kultur der herrschenden Gruppe universalisiert und zur Norm gemacht werden.“ [15] Diese Form der Unterdrückung überschneidet sich mit der weiter oben beschriebenen Definition des Otherings. Hierbei vergleicht sich eine Gruppe von Menschen mit einer anderen und distanziert sich gleichzeitig von ihnen. Wichtig in diesem Sozialen Vergleich ist die herrschende Meinung, dass Menschen und Gesellschaften, deren Leben und historische Erfahrungen von den eigenen abweichen, sich von den eigenen unterscheiden (was wahr ist) und nicht verständlich oder minderwertig sind (was nicht wahr ist). Mit diesem Akt des Vergleichens und Unterscheidens geht die – bewusst oder unbewusst – Angst einher, dass sich fremde Einflüsse auf die eigene Kultur ausweiten und sie damit bedrohen könnte.

Die so unterdrückte Gruppe entwickelt nach Young ein „doppeltes Bewusstsein“, ein Gefühl, sich selbst immer mit den Augen anderer zu betrachten, die eigene Seele mit dem Maßband einer Welt zu messen, die mit belustigter Verachtung und Mitleid herabschaut.[16]

„Kulturimperialismus bedeutet die Paradoxie, sich selbst als unsichtbar zu erfahren und gleichzeitig als anders gekennzeichnet zu sein. […] Die Ungerechtigkeit des Kulturimperialismus bedeutet also, dass die Erfahrung der unterdrückten Gruppe und ihr Verständnis des sozialen Lebens kaum so zum Ausdruck gebracht werden kann, dass die beherrschende Kultur berührt wird, während diese der unterdrückten Gruppe ihre Erfahrungen und ihr Verständnis des sozialen Lebens aufzwingt.“ [17](441)

2.5.  Unterdrückung als Gewalt

Young zielt in ihrer fünften Kategorie von „Unterdrückung“ auf systemische Gewalt ab, die nicht der Person oder dem Individuum gilt, sondern ihre Wurzeln darin hat, schlicht ein Mitglied einer bestimmten Gruppe zu sein und dieser als minderwertig empfundenen Gruppe zuzugehören. „Die Mitglieder einiger Gruppen leben mit dem Wissen, dass sie willkürliche, unprovozierte Angriffe auf ihre Person oder ihr Eigentum fürchten müssen, die kein anderes Motiv haben, als ihnen Schaden zuzufügen, sie zu erniedrigen oder sie zu zerstören.“[18]

„Was Gewalt zu einer Form der Unterdrückung macht, sind weniger die einzelnen Handlungen selbst, obwohl diese meist furchtbar sind; vielmehr ist es der soziale Kontext, der diese Handlungen umgibt, sie ermöglicht und mitunter sogar akzeptabel erscheinen lässt. Was Gewalt zu einem Phänomen sozialer Ungerechtigkeit macht und nicht nur zu einer bloß individuellen, moralisch falschen Haltung, ist der systemische Charakter, die Existenz von Gewalt als Form sozialer Praxis. Gewalt ist systemisch, wenn sie gegen Mitglieder einer Gruppe allein aus dem Grund gerichtet ist, weil sie Mitglieder dieser Gruppe sind. […] Unterdrückung in Form von Gewalt besteht nicht nur aus direkter Peinigung, sondern im täglichen Wissen um die Möglichkeit der Verletzung allein aufgrund der Gruppenidentität, einem Wissen, das von allen Mitgliedern der unterdrückten Gruppe geteilt wird. Mit der Drohung eines Angriffs auf die eigene Person oder auf Familie und Freunde leben zu müssen nimmt den Unterdrückten Freiheit und Würde und verschwendet ihre Energien unnötigerweise.“[19]

„Gewalt ist eine soziale Praxis. Sie ist eine soziale Tatsache, von der jeder weiß, dass sie geschieht und immer wieder geschehen wird. Gewalt bleibt immer am Horizont der sozialen Vorstellungskraft, auch für diejenigen, die nicht gewalttätig sind. […] Ein wichtiger Aspekt der willkürlichen, systemischen Gewalt ist ihre Irrationalität. Fremdenfeindliche Gewalt unterscheidet sich von staatlicher Gewalt und der Unterdrückung durch eine herrschende Klasse. Repressive Gewalt hat eine rationale, wenn auch böse Motivation: Herrscher benutzen Gewalt als ein Zwangsinstrument, ihre Macht zu erhalten. […] Ich zweifle nicht daran, dass die Angst vor Gewalt oftmals dazu beiträgt, unterdrückte Gruppen in Abhängigkeit zu halten, aber ich glaube nicht, dass fremdenfeindliche Gewalt in derselben Weise rational motiviert ist wie zum Beispiel Gewalt gegen Streikende. Im Gegenteil: Gewalttaten wie Vergewaltigungen, Prügel, Mord und die Belästigung von Frauen, farbigen Menschen, Schwulen und anderen besonders gekennzeichneten Gruppen sind motiviert von Angst vor oder Hass auf diese Gruppen. Manchmal mag das Motiv ein einfacher Wille zur Macht sein, diejenigen zu peinigen, die aus dem einfachen Grund verwundbar sind, dass sie der Angriffspunkt für Gewalttaten sind. Wenn dies der Fall ist, ist das Motiv sekundär in dem Sinn, dass es von der sozialen Praxis von Gewalt gegen Gruppen abhängt. Gewalt, die aus Angst oder Hass entspringt, hat mindestens teilweise Unsicherheiten der Gewalttäter zur Ursache: Die Irrationalität der Handlung zeugt davon, dass unbewusste Vorgänge am Werk sind. Diese unterbewussten Ängste dürften auch gewisse Aspekte des Kulturimperialismus erklären.“[20]

2.6.  Fazit: Die Anwendung der Kriterien

Die fünf von Young beschriebenen Kriterien – Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und Gewalt – bieten die Möglichkeit, die Tatsache von Unterdrückung zu beschreiben, zu bestätigen bzw. den Vorwurf der Unterdrückung zurückzuweisen. Mit Hilfe der Kriterien können beobachtbares Verhalten, Statusbeziehungen, Verteilungen, Texte und andere kulturelle Artefakte bewertet werden.[21]

3.    Thesen für die Weiterarbeit

Folgende Thesen können in der Einzelarbeit oder in der Kleingruppe und schließlich im Plenum zur Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund und darüber hinaus bedacht und besprochen werden:

3.1.  Zum Begriff des „Othering“:

Die soziale Praxis des „Othering“ beinhaltet vier Kategorien:

  • Selbstbehauptete Identifikation im Gegensatz zu Bubers „Der Mensch wird am Du zum Ich“;
  • Distinktion i.S.v. bewerteter und wertender Unterscheidung;
  • den Vorgang der Stereotypisierung von Menschen und Gruppen;
  • den Vorgang der Selbstkonstruktion i.S.v. Abwertung und Verdrängung des anderen.

Meine These: Eine wirkliche Unterscheidung der Geister wird zu dem Schluss kommen, dass auch in unserer eigenen Arbeit mit Menschen mit Fluchthintergrund dieser Vorgang des „Verandern“ eine Rolle spielt. Aus christlicher und vor allem aus ignatianischer Spiritualität heraus ist die Frage zu klären, was es für uns heißt, den „anderen“ wirklich als „Bruder“ oder „Schwester“ zu begegnen. Wo sind wir gut aufgestellt? Wo gilt es aufmerksam Veränderungen herbeizuführen, um nicht im Fahrwasser des Otherings mitzutreiben?

3.2.  Zu den fünf Formen der Unterdrückung

Iris Marion Young nennt fünf Formen der Unterdrückung, die einen Kriterienkatalog bilden, anhand dessen von „Unterdrückung“ gesprochen werden kann. Diese fünf Kriterien sind

  • Ausbeutung;
  • Marginalisierung
  • Machtlosigkeit
  • Kulturimperialismus
  • Gewalt

Meine These: In unserer Arbeit mit Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund nehmen wir diese Kriterien an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlicher Intensität wahr. Da sie alle eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz haben, nehmen wir sie schnell als „gegeben“ hin. Aus christlicher und vor allem aus ignatianischer Spiritualität heraus ist die Frage zu klären, ob und auf welche Weise wir gerade gegen diese „Gegebenheit“, diese stillschweigend Akzeptanz vorgehen müssen. Welche inneren Regungen tauchen in dieser Frage auf? Wie kann ein Engagement gegen diese scheinbare Akzeptanz aussehen?

3.3.  Ein kritischer Blick auf das Zusammenleben als Kirche und als  GCL

Die vier Kategorien des Otherings:

  •   Selbstbehauptete Identifikation im Gegensatz zu Bubers „Der Mensch wird am Du zum Ich“;
  • Distinktion i.S. von bewerteter und wertender Unterscheidung;
  • der Vorgang der Stereotypisierung von Menschen und Gruppen;
  • der Vorgang der Selbstkonstruktion i.S.v. Abwertung und Verdrängung des anderen.

Die fünf Formen der Unterdrückung:

  • Ausbeutung;
  • Marginalisierung;
  • Machtlosigkeit;
  • Kulturimperialismus;
  • Gewalt

Meine These: Sowohl im gemeindlichen kirchlichen Leben und Erleben und im Handeln der Kirche als auch im Leben und Handeln unserer Gemeinschaft sind sowohl die Kategorien des Otherings als auch die Formen der Unterdrückung wirksam. Die Rede von „Brüdern und Schwestern“ läuft dabei nicht nur ins Leere, sondern wird pervertiert. Aus christlicher und vor allem aus ignatianischer Spiritualität heraus ist die Frage zu klären, wo und wie nach kluger Unterscheidung der Geister dies deutlich wird, und wie wir uns dieser Erkenntnis gegenüber verhalten sollen resp. müssen.

Köln, 21. November 2019
Harald Klein

[1] Buber, Martin (2008): Ich und Du, Stuttgart, 3.

[2] Hier wird Bezug genommen auf Spivak, Gayatari C. (1985): The Rani of Simur, in: Barker, Francis u.a. (Hrsg.): Europe an ist others, Vol. 1, Univiersity of Sussex

[3] Schönhuth, Michael (o.J.): Art. Othering, in: ders. (o.J.) Das Kulturglossar [online] http://www.kulturglossar.de/html/o-begriffe.html[19.10.2019]

[4] Berghane, Martin (2019): „… filios irae filios fecit esse misericordiae“ Zur ex-negativo-Definition des Christseins in Missionskontexten des 8. Und 9. Jahrhundert, Unveröffentlichte Masterarbeit an der Universität zu Köln, 45.

[5] Berghane, Martin (2019), 45.

[6] Berghane, Martin (2019), 47.

[7] Berghane, Martin (2019), 49.

[8] Berghane, Martin (2019), 53.

[9] Berghane, Martin (2019), 53f.

[10] Vgl. für das Folgende: Young, Iris Marion (1996): Fünf Formen der Unterdrückung, in: Horn, Christoph/Scarano, Nico (2002): Philosophie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main, 428-445.

[11] Young, Iris Marion (1996), 430f.

[12] vgl. Young, Iris Marion (1996), 436.

[13] Young, Iris Marion (1996), 437f.

[14] Young, Iris Marion (1996), 438.

[15] Young, Iris Marion (1996), 439.

[16] vgl. Young, Iris Marion (1996), 440.

[17] vgl. Young, Iris Marion (1996), 440f.

[18] Young, Iris Marion (1996), 441.

[19] Young, Iris Marion (1996), 442.

[20] Young, Iris Marion (1996), 443.

[21] vgl. Young, Iris Marion (1996), 444f.