Ostern – „Unsere irdischen Sterne / … Umarmung“

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Anm.: Der Predigt liegt die „Einführung zu den Predigten in der Heiligen Woche“ zugrunde, in der das immer wieder zitierte Gedicht „Unsere Sterne“ von Rose Ausländer vorgestellt und eingeleitet wird.

Eine Gesellschaft der Singularitäten

Die Osternacht, der Ostersonntag und der Ostermontag sind sicher nicht die passenden Zeiten, um Ihnen mit Soziologie zu kommen, aber für den Einstieg in die Osterpredigt kommen wir beide Autoren da nicht ganz dran vorbei. Es mag sein, dass Ihnen der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz nicht bekannt ist, oder sein 2017 erschienenes Buch „Die Gesellschaft“ der Singularitäten, und selbst der Begriff der „Singularitäten“ mag Ihnen fremd sein – das Phänomen, das er umschreibt, kennen Sie. Reckwitz analysiert die Gesellschaft ab den 1970er Jahren und kommt zum Schluss, dass das Allgemeine, das Institutionelle, das Soziale, dass so etwas wie der „Kitt“ der Gesellschaft war, zerbröselt zugunsten des Hervorbringens von Einzigartigkeiten, von „Singularitäten“. Ein einfaches Beispiel, das mir mit Blick auf meinen Herkunftsort kommt: Reckwitz liefert die Erklärung dafür, dass Wettbewerbe wie „Unser Dorf soll schöner werden“ kaum noch nachgefragt werden, dagegen aber die Konkurrenz dessen groß ist, wer den größeren Garten, das schönere Haus und den – wie soll man es steigern – mehr besonderen „way of life“ vorzeigen kann. Nicht Dorf, sondern Haus – nehmen Sie es als Beispiel für „Singularität“.

» Um es so zu sagen: Was Jesus vor sich hat, ist immer wieder, dass Menschen die eigene Schönheit oder die eigene Größe ihres Daseins gar nicht zu leben wagen. «
Drewermann, Eugen (1993): Auferstanden aus der Angst. Eugen Drewermann im Gespräch mit Eike Christian Hirsch, in: der. (Hrsg.): Wort des Heils - Wort der Heilung, Bd. 4, Düsseldorf, 172.

Ostern – ein Fest der Singularitäten?

Wenn Sie die Osterevangelien lesen, könnten Sie entdecken, dass dieser Wechsel der 1970er Jahre vom Allgemeinen zum Besonderen, vom Institutionellen zum Privaten, von der Gemeinschaft zum Einzelnen, zur Singularität auch dort stattgefunden hat.

Das Evangelium der Osternacht erzählt von den drei Frauen, die in aller Frühe zum Grab gehen, um den Leichnam Jesu zu salben. Stellen Sie sich vor Ihrem geistigen Auge die drei Frauen vor. Ich sehe sie jede für sich gehen, allein und umfangen vom je eigenen Kummer, der die gleiche Wurzel hat. Oder der junge Mann auf der rechten Seite des Grabes, vor dem sie erschrecken und der ihnen in aller Sachlichkeit mitteilt: „Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden. Er ist nicht hier. Und jetzt geht zu den Jüngern und dem Petrus…“ Was sagt Ihr geistiges Auge? Ich sehe ihn am Stein sitzen bleibend, noch nicht mal aufstehend. Singularität.

Noch deutlicher – zumindest in seiner ersten Hälfte – das Evangelium am Ostersonntag. Maria von Magdala geht allein – Singularität – zum Grab, sieht den Stein weggenommen, läuft zurück zu Petrus und dem Jünger, den Jesus liebte (ich nenne ihn mal Johannes) und erzählt es ihnen. Beide laufen zusammen hin zu Grab, Johannes ist aber schneller als Petrus und kommt vor ihm an – zwei Singularitäten mit gleichem Ziel. Johannes lässt Petrus den Vortritt – in dieser Hochachtung kommt die Vermutung auf österliche Singularität allerdings ein wenig ins Schwanken!

Dann folgt die liebenswerte Erzählung mit Jesus, den Maria als Gärtner zu erkennen glaubt, als er sie anspricht: „Frau, warum weinst du?“ Warum eigentlich erscheint Jesus nur der Maria Magdalena und nicht vorher auch den beiden Jüngern? Liebt er vielleicht die Singularität, das Besondere? Noch eins drauf: Er besteht auf Singularität: „Halte mich nicht fest“, sagt er zu Maria. Aber geh zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.“ Maria Magdalena geht zu den Jüngern und wird so zur Apostolin der Apostel, zur Apostolin der Auferstehung. Wieder kommt an dieser Stelle die österliche Singularität ins Wanken – in der Gemeinschaft der Brüder untereinander und in der Gemeinschaft der Brüder mit Maria Magdalena und den anderen Frauen.

Bleibt als Drittes das Evangelium vom Ostermontag, die Erzählung der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus. Wieder der Hinweis auf das geistige Auge: Wie mögen die beiden gehen? Ob es ein Beleg für österliche/biblische Singularität ist, dass von dem einen der Name, eben Kleopas, und seine Rede zu Jesus, vom anderen dagegen gar nichts überliefert ist? Jedenfalls ist es die Predigt des Auferstandenen, die dem Dasein der beiden als Singularitäten ein Ende macht. Janet Brooks Gerloff hat 1992 in der Abtei Kornelimünster in Aachen ein großes Ölgemälde mit den Jüngern samt dem Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus gemalt.[1] Der Auferstandene erscheint transparent, durchsichtig und geht in einer Dreierkette rechts außen, der mittlere Jünger, es wird Kleopas bei seiner Rede sein, ist sowohl beim anderen Jünger als auch beim Auferstandenen eingehängt. Ein erstes österliches „Wir“, das gegen die vermutete Singularität der Jüngerinnen und Jünger an Ostern Kraft hat und ausstrahlt. Neben allem Zweifeln und Fragen, neben dem Ausrichten dessen, was gehört wurde, kommt hier zum ersten Mal das österliche „Brannte uns nicht das Herz?“ ins Wort.

» Diese Frau aus Magdala, Miriam, redet Jesus an und sagt ihr: 'Geh zu meinen Brüdern.' Das ist die ganze Auferstehung: Am Ende eine Perspektive zu gewinnen, die über diese Welt hinausgeht. Und dafür steht die Gestalt Jesu. «
Drewermann, Eugen (1993): Auferstanden aus der Angst. Eugen Drewermann im Gespräch mit Eike Christian Hirsch, in: der. (Hrsg.): Wort des Heils - Wort der Heilung, Bd. 4, Düsseldorf, 175.

„Unsere Sterne / … Umarmung“

Der Befund stellt uns beide Autoren vor die Frage, wie es gelingen kann, Rose Ausländers „Unsere Sterne“ zu einem Schlüssel für die Heilige Woche auch und gerade an Ostern deuten zu können. Sie erinnern sich:

„Um den Atemmond
namenlose erleuchtete Sterne

Unsere Sterne
Brot Wort und
Umarmung“[2]

Da war Palmsonntag und Christus als „Atemmond“, selbst namenlos beim Einzug in Jerusalem, umgeben von namenlosen erleuchteten Sternen, die auf sein Licht aus waren; Da war Gründonnerstag und das Brot beim Abendmahl, das für Christus steht, heute und bei Tisch genauso wie am Abend seines letzten Mahles. Da ist das Wort, das eine Welt verwandeln kann, so ganz anders an die Gewaltworte und die Wortgewalt des Karfreitags, Worte Jesu am Kreuz, die Menschen zusammenführen.

Was ist mit „Umarmung“? Sie hören oder lesen nichts davon in den Osterevangelien, im Gegenteil: Am Ostersonntag im Evangelium hören Sie klar und deutlich das „Halte mich nicht fest!“ des Auferstandenen an Maria Magdalena. Das „Noli me tangere“ aus der lateinischen Übertragung des Johannesevangeliums ist noch viel härter: „Rühre /Fass mich nicht an!“ könnten Sie es übersetzen – wobei das „Halte mich nicht fest näher am griechischen Original ist.

Aber gerade in dem „Halte mich nicht fest“ liegt unsere Deutung. Es gibt Umarmungen, die etwas von Festhalten haben, die den anderen einengen, nicht mehr loslassen wollen; Umarmungen, in denen sich der/die Umarmende an den/die Umarmte/n kettet, bindet, ihm/ihr anhaftet. Abgesehen davon, dass das beim Auferstandenen sicher gar nicht ginge, hören wir beide das Wort des Auferstandenen an Maria als Wort, das eben auch den Jüngern mitzuteilen ist; es geht um einen Plural: „Haltet mich nicht fest!“ – Im Sinne von „Lasst mich los, lasst mich gehen!“ Aber Achtung: Die Betonung liegt auf dem „mich“: „Halte/Haltet mich nicht fest. Lasst mich los, lasst mich gehen!“

Das wirklich österliche Moment für die Jünger, für Maria Magdalena und für uns hier und heute ist, dass der Auferstandene Maria zu den Jüngern zurückschickt:

In der Osternacht: „Nun aber geht und sagt meinen Jüngern und dem Petrus: Er geht Euch voraus nach Galiläa, dort werdet Ihr ihn sehen, wie er es Euch gesagt hat.“ – An Ostersonntag: „Halte mich nicht fest, denn ich bin noch nicht zu meinem Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu Eurem Gott.“ – An Ostermontag hat es eine noch schönere Wendung. Da gibt es kein Gebot des Auferstandenen, sondern eine zutiefst spirituelle Erfahrung: „Und sie sagten zueinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss? Und noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehren nach Jerusalem zurück und sie fanden die Elf und die mit ihnen versammelt waren. Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.“

Noch einmal ist ihr geistiges Auge gefragt – für die Szene als Maria Magdalena und die anderen Frauen beziehungsweise als Kleopas und der andere Jünger von Emmaus zurück nach Jerusalem zu den Jüngern kamen. Wir können es uns nicht vorstellen, dass das ohne freudige Umarmung hat gehört werden können. Wir können uns nicht vorstellen, dass die Worte, die gewechselt wurden, Gewaltworte waren, sie werden eher zusammengeführt haben. Und wir können uns nicht vorstellen, dass solche Zusammenkünfte ohne Brot, auch ohne Wein hätten stattfinden können. Diese Form der Umarmung hat nicht Festhaltendes, sie setzt in Bewegung. Brot und Wort geben Kraft und Richtung an. Wer es so deuten will, kann dieses Geschehen  auch Gottesdienst“ nennen!

» Man muss die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit finden, um als Mensch wirklich leben zu können. «
Drewermann, Eugen (1993): Auferstanden aus der Angst. Eugen Drewermann im Gespräch mit Eike Christian Hirsch, in: der. (Hrsg.): Wort des Heils - Wort der Heilung, Bd. 4, Düsseldorf, 177.

Ein Bild fürs Christsein und für Gemeinde: Brot, Wort und Umarmung

Ein Letztes: Im „Halte mich nicht fest“ des Auferstandenen kann man auch einen „wunderbaren Tausch“ (wie an Weihnachten) heraushören. „Unsere Sterne / Brot Wort und / Umarmung“ nehmen wir nicht mehr nur als Gaben Jesu Christi des Auferstandenen, die wir empfangen, so, als seien sie auf uns hin ausgerichtet. Wir schlagen Ihnen vor, das „Halte mich nicht fest!“ einfach zu ergänzen mit „sondern haltet einander fest, seid einander Stütze und Halt.“

Brot, Wort und Umarmung werden zu Metaphern des christlichen Lebens und des Lebens des lebendigen Gottes in uns selbst. Wir dürfen und können sie aus uns heraus weitergeben, in dieser Weitergabe des Auferstandenen, der in Brot, Wort und Umarmung in uns lebt, vollzieht sich Glaube an Gott, Glaube an Leben, Glaube aneinander.

Die verloren gegangene Bindung an Kirche ist in der Essener Studie – von ihr war an Karfreitag die Rede – ist der am häufigsten genannte Grund für einen Kirchenaustritt. Wie würde das aussehen, wenn uns Rose Ausländers und unsere „Sterne“ – wenn Brot, Wort und Umarmung – so etwas wie freilassende Bindekräfte der Kirche würden? Was würde das für die vielen Formen des Miteinanders in der Kirche bedeuten? Was für ein Geschenk, dann sagen zu dürfen: Brot, Wort und Umarmung – drei Worte, drei Sterne, die für unsere Freundschaft stehen, die unser Miteinander zum Leuchten bringen, mit und in denen wir unsere Freundschaft leben.

Das wäre wahrhaftig ein Frohes Ostern! Dann stimmte es: „Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.“

Amen.

Köln 26.03.2021
Harald Klein

[1] Vgl. [online] https://abtei-kornelimuenster.de/spirituelles/bilder-brooks-gerloff.html?view=article&id=81:brooks-gerloff-unterwegs-nach-emmaus&catid=48 [26.03.2021]

[2] in: Ausländer, Rose (1992): Gelassen atmet der Tag. Gedichte, Frankfurt/Main, 50.