Praktisch umgesetzt – Was leisten Tugenden?

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Den Zugang zum Begriff finden

Eine kleine Denkübung zu Beginn: Stellen Sie sich vor, Sie werden gebeten, in drei Sätzen zu erklären, was eine „Tugend“ sei, was „tugendhaftes Leben“ meine und was das Ganze mit Ihrem Glauben zu tun habe, welchen Zusammenhang es also zwischen „Tugend“ und Glaube gebe. – Mit dieser Frage können Sie natürlich auch einen Gruppenabend beginnen.

Wichtig und gut zu wissen ist es, dass Tugenden keine christlichen Erfindungen sind. Der altgriechische Begriff areté wird meist mit „Gutheit“ für oder „Tauglichkeit“ in der Erfüllung besonderer Aufgaben übersetzt; jemand ist ein guter Soldat, ein tauglicher Philosoph. Das lateinische Wort virtus leitet sich von vir (= Mann) ab; gebraucht wurde es im Sinne einer dem Menschen innewohnenden Fähigkeit, das Richtige, das Gute zu tun, es umzusetzen – und genau dafür die ausreichende Kraft (= virtus) zu haben. In der Antike ist das Ziel des Lebens ein geglücktes Leben. Das meint nicht ein subjektives Glücksgefühl, sondern ein Umsetzen dessen, was im Menschen angelegt ist. Tugendhaft lebt in antikem Denken der, der wahrnimmt, was in ihm angelegt ist, und der die Kraft und die Möglichkeit hat, diese Anlagen auszuleben. Es ist der antiken Philosophie daher auch zu eigen, die Frage nach den Grenzen und dem Rahmen zu stellen, in dem dieses „Ausleben“ geschehen darf, aber auch soll. Als tugendhaft gelten in der Antike die Menschen, die klug/weise, gerecht, tapfer und maßvoll leben.

Ein erstes Innehalten im „Praktisch umgesetzt“ – sei es allein für sich oder in der Gruppe – soll hier Raum haben. Fallen Ihnen „tugendhafte Menschen“ in diesem Sinne ein, aus Ihrem Freundes-und Bekanntenkreis, aus Politik und Kirchen? Was zeichnet sie als „tugendhaft“ aus? Beschreiben Sie das Phänomen „Tugend“.

„Göttliche“ Tugenden?

Zu den aus der Antike überlieferten vier Tugenden (= Tauglichkeit, Gutsein in.…) Klugheit/ Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß kamen im Hochmittelalter vor allem durch Thomas von Aquin die „drei christlichen Tugenden“ Glauben, Hoffnung und Liebe dazu. Sie finden sich besonders aussagestark im paulinischen Hohelied der Liebe in 1 Kor 13,13. Die antike, philosophische Tugendlehre wird so in eine moraltheologische Erwartungshaltung transformiert

Geistesgeschichtlich hatte dieser Prozess einige Auswirkungen. Ein Erstes: „Tugenden“ wurde mehr und mehr zu einer Alleinstellungsmerkmal von Christen, werden sie doch in Zusammenhang mit Glauben, Hoffnung und Liebe gesehen. Menschen anderer Religionen fehlt der (richtige) Glaube, sie können in dieser Sichtweise auch keine tugendhaften Menschen sein. Das Verbot Papst Pauls III. von 1537, gegen die Praxis, Indianer zu versklaven, weil sie keine Menschen seien, zeigt, welche Auswüchse diese Vermischung der drei göttlichen mit den vier Kardinalstugenden annahm.

Ein Zweites: Es war die Reformation und das Gedankengut des Humanismus, der den Zusammenhang zwischen Vernunft und Tugend wiederhergestellt hat – was tugendhaft, was klug oder weise, was tapfer, maßvoll und gerecht sei, soll nicht mehr „von außen“ vorgegeben, sondern „von innen“ erwogen werden. Betont wird hier der wiederentdeckte lateinische Begriff „virtus“ (= Mannhaftigkeit), die Fähigkeit, das Angemessene zu erkennen und es zu tun.

Und das Dritte: Schon die „Taufe“, die Übernahme der antiken vier Tugenden zeigt, dass es keine genuin christlichen Tugenden sind. Ich behaupte, dass es keine „christlichen“ Tugenden gibt – sie würden einem Nicht-Christen dann ja nicht zugänglich sein. Mir ist der Gedanke näher, dass Religion, dass Werke der Frömmigkeit und dass das Verankert sein in einer christlichen Spiritualität Hilfen sind, tugendhaft zu leben. Wenn das stimmt, kann ich mit jedem Menschen jeder Religion und ohne Religion im Gespräch darüber sein, was für ihn denn „Tugend“ sei, und was ihm helfe, aus ihnen und für sie zu leben.

Ein zweites Innehalten im „Praktisch umgesetzt“ – sei es allein für sich oder in der Gruppe – soll an dieser Stelle Raum haben. Nehmen Sie sich Zeit, der Gegenwart, der Kraft, der Wahrnehmung der vier Kardinaltugenden in Ihrem Leben nachzuspüren. Wie steht es um „Klugheit/Weisheit“, um „Tapferkeit“, um „Gerechtigkeit“ und um „Maß“? Merken Sie, wie offen, wie vielschichtig – in der Sprachphilosophie sagt „äquivok“ – diese Begriffe sind? Wenn Sie sich in der Gruppe austauschen: Was alles fällt Ihnen z.B. zu „Maß“ ein?

Und der nächste Schritt in diesem Innehalten: Er gilt der Frage, wie sehr Ihr Glaube, Ihre Kirchenzugehörigkeit und/oder Ihre Christusbeziehung Ihnen helfen bzw. es Ihnen erschweren, ein tugendhafter Mensch zu sein.

Tugenden als „Antwort“, nicht als „Ruf“

Wenn der Themenschwerpunkt des Werkheftes 2020 „Am Leben bleiben“ ein Kampfruf, ein Aufruf zum Ringen um das Leben wäre, dann wären die Tugenden die inneren Waffen, die ich einsetzen muss, damit Leben gelingt und gelingen kann. Wenn es am „Mehr“ an Glaube Hoffnung und Liebe liegt, oder am „Mehr“ an Klugheit/ Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß, dann würde spätestens das zweite Innehalten zeigen: Es gibt noch Luft nach oben. Natürlich könnte ich, könnten Sie maßvoller, tapferer, gerechter und klüger sein, keine Frage. Aber Sie spüren sofort die Richtung, die Tendenz, in die Sie dieser Ansatz zieht. Wenn ich, wenn jeder nur etwas tugendhafter lebte, die Welt wäre besser, wenn nicht sogar gerettet.

Schauen Sie sich die Kardinalstugenden einmal näher an. Das Gotteslob stellt sie wie folgt vor (vgl. GL 29,5):

„Klugheit meint die Anwendung von Wissen und die Wahl von Mitteln, um in einer konkreten Situation gut zu handeln. – Gerechtigkeit ist die Tugend, Gott und dem Menschen zu geben, was ihnen gebührt. Sie lehrt, die Rechte eines jeden zu achten und das Gemeinwohl zu fördern. – Tapferkeit ist die Fähigkeit, in Krisen und gegen Widerstände am Guten und an der Wahrheit festzuhalten. – Maß halten heißt, achtsam die Balance zwischen einem ‚zu viel‘ und einem ‚zu wenig‘ in allem Handeln zu suchen, damit es zum Guten führt. Die Mäßigung bewahrt vor Gier und Abhängigkeit, sie schenkt innere Freiheit und Besonnenheit.“

Zu einem tugendhaften Leben gerufen zu werden, von wem auch immer, wird hier verstanden als ein Leben auf ein schon vorformuliertes „Gutes“ hin. Das Ziel liegt außerhalb des Menschen, und es ist die Frage, mit wie viel gutem oder schlechtem Gewissen er diesem Ruf folgen kann, folgen will, de facto folgt. – Anders in der Antiken Philosophie, anders auch im Leben und Wirken Jesu. Hier meint ein tugendhaftes Leben nicht ein „Gerufen sein“, sondern umgekehrt, ein „Antwort geben“. Weil mich dieser Jesus von Nazareth so tief berührt, kann ich nicht anders als klug, gerecht, tapfer und maßvoll mein Leben zu führen, meine Begegnungen und Beziehungen zu gestalten. Das ist, so Eugen Drewermann, lebensrettend, erlösend, alle Angstumschnürung auflösend, und zwar im diesseitigen, nicht erst im jenseitigen Leben

Am Leben bleiben – maßvoll leben

Wird Religion zu einem Glaubenssystem, das das Leben der Menschen von außen zu bestimmen versucht, werden die drei Tugenden Glauben, Hoffnung und Liebe zu Gehorsam, Treue und Pflicht deformiert. Hier haben Tugenden keinen Raum mehr, es fehlt die Freiwilligkeit und die Ausgestaltung im je eigenen Maße.

Tugendhaftes Leben setzt in der ignatianischen Spiritualität zwei Aspekte voraus: die „unterscheidende Liebe“ (discreata caritas) und die Freiheit des Geistes. P. Johannes Gerhartz SJ betont bei Ignatius ein Zugleich von maßloser und maßvoller Liebe unter Leitung des Geistes. Es sei die Kraft der Unterscheidung, der Feinfühligkeit und der Fügsamkeit für den Geist Gottes, die das Maßlose (z.B. im Ersehnen und Begehren) und das Maßvolle (in der Umsicht und in der Zartheit des Vorgehens) zu vereinen vermag. Sich in all dem die Freiheit des Geistes zu bewahren ist in zutiefst ignatianischer Wert.

Von hier aus kann ein drittes Innehalten im „Praktisch umgesetzt“ – sei es allein für sich oder in der Gruppe – Raum haben. Um des Themas des Heftes willen zielt es auf die Tugend der Mäßigung. Alle anderen Tugenden können ebenso betrachtet werden. Es geht um die Frage, sich dem Begriff der Mäßigung in „unterscheidender Liebe“ zu nähern. Was ist gegenwärtig mein Maß im/bei … – wie stark ist der Impuls der Maßlosigkeit, wie zart und zielführend der Impuls des Maßvollen? Die herausfordernde Aufgabe wird es dabei sein, für sich oder untereinander die „Gegenstände“ zu benennen, an die Sie persönlich oder in der Gruppe „Maß nehmen“ wollen.

Tugendhaft kann nur der Mensch sein, der in der Freiheit des Geistes und in unterscheidender Liebe erspürt, was recht ist, der sein Maß findet, um selbst am Leben zu bleiben und um anderen ein Mehr an Leben zu ermöglichen.

Harald Klein, Köln
* 1961, Priester und Sozialpädagoge
gebundenes Mitglied in der GCL