Respice finem – Von der Grenze her beten lernen

  • Beiträge im Werkheft der GCL
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Zwei kleine Texte aus der Offenbarung des Johannes

„Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ (Offb 21,1)

„Gott wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“
(Offb 21,3-5)

Der Anfang – oder das Ende?

Mal ehrlich: Wo würden Sie diese beiden kurzen Texte aus der Johannes-Offenbarung eher vermuten? Bei einer Trauerfeier – oder bei einer Taufe? Ich musste erst einmal nachschauen, ob meine Vermutung stimmte, und war überrascht: Der Text über das neue Jerusalem findet sich natürlich als mögliche Schriftlesung im „Rituale“ zur kirchli- chen Begräbnisfeier, aber auch im „Rituale“ zur Feier der Kindertaufe. Dass man am En- de eines christlichen Lebens dieses Ende bedenkt, liegt auf der Hand. Aber dass das En- de schon zu Anfang, in der Taufe, mit auf den Weg gegeben und verkündet werden kann, das war mir neu. Und es freut mich. Es erinnert mich an die kluge Regel aus einer Fabel des Äsop: „quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ – „Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“ Das ist erst mal keine Jenseitsvertröstung! Dahinter steht am Anfang schon die Ermahnung zu einem klugen und zielorientierten Handeln. Und von daher hat das Wort aus der Offenbarung einen guten Platz in der Feier der Kin- dertaufe – und in jedem Gestus oder Ritus, der einer Tauferneuerung, einer „zweiten Bekehrung“ gilt. Und damit auch in jedem Beten, das mich neu auf Gott hin ausrichten will.

Beten – von der Grenze her und über die Grenze hinaus

Mein Leben läuft ab in einem gut organisierten Alltag, und mein Beten hat darin seinen Platz: die betende Vorausschau auf das, was „heute“ kommen mag, oder das „Gebet der liebenden Aufmerksamkeit“ am Abend ist auf den Alltag ausgerichtet und nimmt seine Begegnungen, seine Höhen und Tiefen in den Blick. In aller Regel ist es gut „begrenzt“, und es findet „in den Grenzen“ statt, die ihm gesetzt sind. Aber mein Leben selbst braucht Visionen, braucht ein „auf etwas hin“, nach dem ich mich ausstrecken will und von wo es angezogen wird. „Visionen“ sind eine Art des Ausschauens „über die Grenzen hinaus“; ein ähnliches Wort wäre vielleicht „Utopie“. Das griechische „u“ ist ein Präfix, eine vorge- setzte Silbe, die immer „nicht“ bedeutet, und „Topos“ kann mit „Ort“ übersetzt werden. Leben und Beten zielt auf „Nicht-Orte“ hin, die aber eine große Kraft der Anziehung und der Motivation haben. Und in aller Regel gibt es eine klar beschreibbare Grenze, die die „Topoi“, die „Orte“ meines Lebens, von den „Utopien“, den „Nicht-Orten“ meines Lebens, trennt. Mir sind klare Grenzen gesetzt – oder: ich habe mir (klare?) Grenzen gesetzt. Das ist erst einmal gut so – einseitige Grenzüberschreitungen führen zu schlimmen Konflik- ten, können lebensbedrohlich werden. Das gilt für das eigene Leben, das gilt im familiä- ren und beruflichen Alltag, das gilt in der großen Politik. Aber „von der Grenze her be- ten“ kann auch heißen, mich von Gott rufen zu lassen, der mich locken und „herausru- fen“ will in ein „neues Land“, aus Grenzen heraus, die vor ihm keine Grenzen sind! Die Geschichte unseres Glaubens beginnt mit Abraham, der mehr als einmal aus seinen Grenzen herausgerufen wurde. Und meine Geschichte des Glaubens kennt das auch – wie mag das bei Ihnen sein? Die große Gefahr eines „lauen Glaubens“ (vgl. Offb 3,15f) ist, dass ich mich in meinen selbst gewählten und für mich bequemen Grenzen meines Lebens einrichte.

Beten von der Grenze her – die Blickrichtung ändern

Was würde wohl geschehen, wenn ich in meinem Leben bis an die Grenzen ginge und von diesem „Topos“ her auf die „Utopie“ schaue? Das bräuchte eine „Umkehr“. Nicht auf mein eigenes Leben schauen, sondern mich umdrehen und über die Grenzen hinaus schauen. Hören, ob Gott von dort her ruft? Nachspüren, ob ich eine Sehnsucht Gottes erahne, mich über die Grenze hinaus dorthin zu rufen, wo er selber (auch) ist. Wenn Gott mich über die von mir vielleicht vorschnell gerufene Grenze hinausruft, darf ich da- rauf vertrauen, dass es nicht zu den oben beschriebenen Konflikten kommt, sondern dass mein Leben sich weitet, dass es für mich und für andere ein „Mehr“ an Leben gibt. Dazu braucht es Mut, Vertrauen, Weggefährtinnen und Weggefährten, die mit ins „Neu- land“ gehen. Und die Sicherheit, dass er es ist, der ruft. Das könnten wir in unseren Gruppen finden, oder?

Das neue Jerusalem – eine Vision vom Leben

Jenseits der Grenze zum neuen Jerusalem werden die Tränen von den Augen abgewischt sein, der Tod wird nicht mehr sein, keine Klage, keine Mühsal, so prophezeit es Offb 21. Für ein Beten, das von der Grenze her geschieht und über die Grenze hinausschaut, kann das heißen: Wo sehe ich in meinem Leben Erfahrungen von Tod, von Mühsal, von Klage – und wo ahne und spüre ich mich von Gott her gerufen, genau dorthin zu gehen, über meine Grenzen hinaus? Wie kann der „Gott in mir“, der „Gott mit uns“ Tränen von den Augen abwischen, oft schon durch einen kleinen Schritt? Durch welches Tun und/ oder Unterlassen kann das „neue Jerusalem“ im Diesseits Gestalt annehmen und nicht vorrangig Jenseitsvertröstung bleiben? Das hat viel mit Tasten zu tun und braucht nicht sofort kluge, langfristige, nachhaltige Programme. Aber das Wichtigste und Erste ist die Bereitschaft zu einem großherzigen „respice finem“: sind die Grenzen, die ich mir gesetzt habe oder die ich sehe, wirklich die Grenzen, die Gott für mich will und in deren Mitte er zu wohnen zugesagt hat?

  1. Wenn ich über mein alltägliches Leben in seinen alltäglichen Grenzen hinausschaue: Welche Tränen nehme ich auf, wessen Gesicht wahr? Welche Klagen und welche Mühsal erreichen mich?
  2. Ahne ich darin einen Anruf und eine Verheißung Gottes, über die Grenze hinaus Neuland zu betreten? Und wie könnte mein erster Schritt auf dieses „neue Jerusa- lem“ hin aussehen?
  3. Mit wem – und ab wann – möchte ich gehen?

Harald Klein, Köln