Rezension zu: Hammel, Stefan (2013): Loslassen und Neues ins Leben lassen. Wegweisende Geschichten, Freiburg

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Die Zielrichtung – und der Weg dahin

Stefan Hammel, 1967 in Ludwigshafen geboren, ist sowohl evangelischer Theologe und Pfarrer als auch systemischer Berater, Familien- und Hypnotherapeut. Er arbeitet sowohl in der Gemeinde- als auch in der Klinikseelsorge in Kaiserslautern. Zum Thema „Loslassen“ ist er überzeugt, dass es dabei nicht nur um ein reflexives Geschehen der Vernunft geht, sondern dass dabei alle anderen auf den Menschen wirkenden Kräfte mit einbezogen werden müssen. Im Vorwort seines Buches schreibt er:

„Loslassen braucht natürlich oft mehr als eine Entscheidung unseres bewussten Denkens. Es braucht den ganzen Menschen mit Körper und Seele. Beim Loslassen geht es um die Welt der Träume. Es geht um unsere Erinnerungen, Erwartungen, Hoffnungen. Hier brauchen wir nicht nur das bewusste Denken, das oft gern loslassen möchte und nicht begreift, warum das so schwer gelingt. Zum Loslassen brauchen wir oftmals auch den unbewussten Teil unserer selbst, den Teil, der in bester Absicht noch Bedenken hat und mitsamt seinen Bedenken und guten Absichten mit hineingenommen werden möchte in die Bewegung vom alten zum erneuerten Leben“ (S. 10).

Einen Weg zum komplexen Vorgang des Loslassens zeigt er durch erzählte Geschichten, meist aus dem Klinikalltag, auf. Das narrative Vorgehen, das der Autor auf die Lesenden anwendet, entspricht dem narrativen Vorgehen im Alltag des Klinikseelsorgers. Selten werden sog. Weisheitsgeschichten herangezogen, meist sind die Geschichten, die erzählt werden, absolut alltäglich, sodass sie zwar von einem anderen handeln, aber genauso gut mich selbst meinen können. Die Lösungen, die in den Geschichten für deren Protagonisten gelten, werden im Hören/Lesen auch mir angeboten. Entscheidend ist, auf welcher Ebene ich die Geschichten zu hören bereit bin, anzunehmen willig bin. Gelingt es – entsprechend des Vorworts – , sie vom bewussten Denken weiterziehen und hineinziehen zu lassen in den unbewussten Teil unseres Selbst? Und kann von da, aus dem Un- oder dem Unterbewussten, auch eine tiefere Motivation zum Loslassen kommen, kann die Bereitschaft wachsen, Neues ins Leben zu lassen? Man beachte hier den passiv geschriebenen Stil im Untertitel des Buches. Loslassen ist nicht nur, selbst aktiv Neues zu wagen oder anzugehen, sondern auch passiv Neues zuzulassen und ins Leben hineinzulassen (oder ist dieses …lassen nicht auch ein aktives Tun?)

» Loslassen braucht natürlich oft mehr als eine Entscheidung unseres bewussten Denkens. Es braucht den ganzen Menschen mit Körper und Seele. Beim Loslassen geht es um die Welt der Träume. Es geht um unsere Erinnerungen, Erwartungen, Hoffnungen. Hier brauchen wir nicht nur das bewusste Denken, das oft gern loslassen möchte und nicht begreift, warum das so schwer gelingt.«
Hammel, Stefan (2013): Loslassen und Neues ins Leben lassen, Freiburg, 10.

Was man alles loslassen kann

Einladend ist die Einfachheit der Geschichten und der Erklärungen, die das Beschriebene und Erzählte verdeutlichen. Auf knapp 150 Seiten werden immerhin stolze 35 Haltungen oder innere Bewegungen thematisiert, die alle „losgelassen“ werden können, von „Abhängigkeiten“, „Angst und „Ansprüche“ loslassen über „Besitz“, „Einsamkeit“ und Erwartungen“ loslassen bis zu „Ungeduld“, „versteckte Aufträge“ und „Ziele“ loslassen. In allen Kapiteln werden zu Beginn kurze Stichworte gesammelt, auf die hin die Geschichte gelesen werden kann, es folgt die Geschichte, dann eine knappe Erklärung, oft auch die Einordnung in das therapeutische Verständnis der geschilderten Sachlage.

» Wunschlos glücklich ist, wer Wünsche loslässt, nicht wer sie erfüllt bekommt. «
Hammel, Stefan (2013): Loslassen und Neues ins Leben lassen, Freiburg, 22.

Rückgriff auf Weisheitsgeschichten

Der Wert der erzählerischen Methode ist weiter oben schon angedeutet: die Geschichte handelt von anderen, beginnt aber im Lesenden nach- und weiterzuwirken, wenn der Lesende dies zulässt. Von daher ist es neben der therapeutischen Erklärung nur zu gut, dass weitere Impulse zum (sehr ganzheitlich verstandenen) Loslassen in Form von Weisheitssprüchen oder Weisheitsgeschichten angehängt sind. Viele dieser Gedanken scheinen vom Autor selbst formuliert zu sein, da andere Herkunftsquellen nicht ausgewiesen sind.

Da ist zum Beispiel das Loslassen von Wünschen. Der Autor erzählt die fiktive Geschichte seiner Zugfahrt mit einer Fee im Abteil, mit der er über Wünsche und deren Erfüllung redet. Sätze der Fee Mirabilia wie „Wunschlos glücklich ist, wer Wünsche loslässt, nicht wer sie erfüllt bekommt“ (S. 22) tun zweifellos gut. Die therapeutische Deutung folgt sofort: „Zufriedenheit kommt nicht aus der Erfüllung von Wünschen, sondern eher aus ihrem Anschauen, Zulassen und Loslassen“ (S. 25).

Oder das Beispiel des Loslassens eines gewohnten Verhaltensmusters. Erzählt wird die Geschichte eines Arbeitskollegen, der immer wieder hüstelte, was die Kollegen teils amüsierte, teils aber auch störte. Klar wird: Loslassen heißt nicht, einfach mit dem „Althergebrachten“ aufhören, sondern eben „Neues“ ins Leben lassen. „Alte Verhaltensmuster loslassen, heißt neue an deren Stelle setzen. Wenn sich die neuen Muster bewähren, werden die alten unwillkürlich immer seltener gewählt. Das kann auch heißen, es dauert immer kürzer, bis sie ‚abgewählt‘ werden: Anfangs mag das im Nachhinein und ganz bewusst geschehen. Später kann dieses Abwählen des Alten und das Auswählen eines neuen Verhaltens immer schneller und unwillkürlicher geschehen, bis es schließlich völlig unbewusst und unwillkürlich erfolgt“ (S. 89).

Und der therapeutische Hinweis, das therapeutische Einordnen des Loslassens von Verzweiflung – zweifellos eine andere „Hausnummer“ als das Loslassen eines gewohnten Verhaltensmusters oder eines Wunsches – ist: „Sobald wir sagen können: ‚Nicht ich bin in der Hölle (denn um mich sind Möbel und keine Flammen), sondern die Hölle ist ein Film in mir‘, besteht die Chance, unsere Träume und damit unsere Realität aktiv mitzugestalten“ (S. 58).

» Die unbestreitbar wahr anmutende Wirklichkeit unserer gewohnten Haltungen verstellt uns den Blick für die Lebensmöglichkeiten, die unser Leben wohltuend erneuern könnten.«
Hammel, Stefan (2013): Loslassen und Neues ins Leben lassen, Freiburg, 145.

Fazit: Was das Buch leisten kann

Da ist neben den vielen therapeutischen Möglichkeiten, den Prozess des Loslassens einzuleiten und den Weg des Loslassens zu gehen, die narrative Methode zu nennen. Im Buddhismus leistet da der in Großbritannien geborene und in Australien wirkende Ajahn Brahm mit seinen Bücher Ähnliches. Auch der 1988 verstorbene indische Jesuitenpater Anthony de Mello hat mit seinen Weisheitsgeschichten viel an Verständnis zwischen östlicher und westlicher Weisheit des Loslassens beigetragen. Alle diese Autoren und deren Bücher zielen auf das Weiterwirken der Geschichten im Lesenden ab. Die Geschichten – und oft deren mitgelieferte Deutungen – sollen das Interesse und den Mut an Aufbruch wecken, und das im doppelten Sinne: Aufbruch der Lebensstrukturen, sofern sie klammern und bewegungsunfähig machen, und Aufbruch auf neue Inhalte und neue Menschen hin, die Entwicklung, Freiheit und Wachstum verheißen.

In diesen Strom möchte ich Stefan Hammels Buch stellen. „Zum guten Ende“ – so ist sein Nachwort überschrieben – beschreibt er den Punkt zwischen dem Rückblick auf das, was war, und der Frage nach einem Ausblick auf das, was kommen könnte, wenn man loslässt:

„Der Blick aufs Loslassen ist ein Blick zurück, und ermöglicht wird das Loslassen oft erst durch den Blick nach vorn. Was wollen wir anstatt des bisherigen Verhaltens tun? Wie können wir unsere Situation deuten, damit es uns besser damit geht? Wie können wir uns wirkungsvoll motivieren, etwas noch nie Getanes, Schwieriges zu tun, um glücklicher als bisher zu leben?“ (S. 144)

„Es könnte sein, dass wir uns die Wirklichkeit nach dem Loslassen noch nicht vorstellen können, oder, dass wir sie uns zwar vorstellen können, sie aber in unserer Situation für unerreichbar halten.  Die unbestreitbar wahr anmutende Wirklichkeit unserer gewohnten Haltungen verstellt uns den Blick für die Lebensmöglichkeiten, die unser Leben wohltuend erneuern könnten“ (S. 144f).

Für genau diese Situation ist das Buch sehr empfehlenswert: dann, wenn der Blick zurück geht, aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht, und dann, wenn ich mir eingestehe, dass die gewohnten Haltungen den Blick für Lebensmöglichkeiten verstellen, die mein Leben wohltuend erneuern können – dann hilft der Griff zu Stefan Hammels „Loslassen, und Neues ins Leben lassen“.

Köln, 10.01.2022
Harald Klein