„Schon viele haben es unternommen…“
Theophilus, das ist der erste Name, den Lukas im Vorwort seines Evangeliums nennt und Theophilus taucht dann in seiner Apostelgeschichte noch einmal auf.
Interessant ist, um wen es sich da handelt, und wem Lukas seine beiden Schriften zueignet oder widmet. Die Übersetzung des Namens kann Auskunft geben – „Theophilus“ heißt nichts anderes als „Freund Gottes“, und solltest du dich als solchen oder als „Theophila“, als Freundin Gottes“ auch nur in Ansätzen selbst sehen, so nimm doch das heutige Evangelium und die folgenden Evangelien aus dem Lukas-Jahreskreis als „für dich geschrieben“ an.
Viele haben es unternommen, sagt Lukas, eine Erzählung über all die Ereignisse abzufassen, die sich der Überlieferung gemäß erfüllt hätten. „Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben“ (Lk 1,3).
Jetzt geht es also um dich, den Theophilus, und um dich, die Theophila, wie auch immer du heißen magst.
In der Synagoge von Nazareth – oder so
Der zweite Teil des Evangeliums spielt in der Synagoge von Nazareth – ich wage zu behaupten, er könnte sich auch in deiner Küche, meinem Wohnzimmer oder auf einer Wanderung am Siegsteig abgespielt haben.
Jesus liest aus der Buchrolle des Jesaja Verse, in denen es um das Ausrufen eines Gnadenjahres des Herrn geht und darum, den Armen eine frohe Botschaft zu verkünden. Als ihn alle in der Synagoge anschauen, gespannt darauf, was er ihnen dazu zu sagen habe, legt Jesus dar: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (vgl. Lk 4,14-21).
Für die Theologen eine Fundgrube! Es gäbe so viel zu erforschen, nachzufragen, zu begründen oder zu verwerfen, festzuklopfen oder von sich zu weisen. Einige Beispiele:
- setzt Jesus sich hier wahrhaftig mit dem Gottesknecht aus dem Propheten Jesaja gleich?
- sieht er sich selbst als Gesandter Gottes, und darf er so von sich sprechen?
- geht es ihm um die Entlassung der Gefangenen – oder ist das „sinnbildlich“ zu verstehen?
- was meint er mit „Gnadenjahr des Herrn“?
- und was steckt hinter der frohen Botschaft, die den Armen gebracht werden soll – und vorher: wer sind eigentlich die Armen?
Es scheint, als könne man all diese Fragen auf ihn bezogen mit „Ja“ beantworten bzw. aus seinem späteren Tun beantworten, denn er schließt ja seine Auslegung ab mit den Worten „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21).
Nach dem „Heute“ fragen
Ich möchte gerne mit dir einer anderen Frage auf den Grund gehen, der Frage nach dem „Heute“. Der Logik des Evangeliums folgend, spricht Jesus den Moment an, in dem er die Auslegung der Bibelstelle aus dem Propheten Jesaja beendet, es ist das „Jetzt“, es ist das „Heute“ in der Synagoge von Nazareth.
Der Logik des Gottesdienstes, des Gebetes oder der Meditation folgend, geht es allerdings um das „Heute“ eben des Gottesdienstes, des Gebetes oder der Meditation. Es geht um das „Jetzt“, um den „Moment“, eben um deine Küche, mein Wohnzimmer oder um die Wanderung am Siegsteig.
Es mag den Menschen der Religion zutiefst befriedigen, wenn er die Erfüllung der Weissagung des Propheten Jesaja in Jesus von Nazareth lehren kann; es mag den Menschen der Frömmigkeit zutiefst befriedigen, wenn er im Gottesdienst inbrünstig in Gemeinschaft mit anderen singen kann „Lasst uns auf seine Hände schau‘n, an seinem Reiche mutig bau‘n, sein Wort ist Ja und Amen.“ Der Mensch der Spiritualität mag da mitgehen können, er hofft aber darauf, dieses ihm von Jesus Dargelegte in seinem „Heute“ erfahren zu können, und sucht nach Weisen und Orten, es für andere im gemeinsamen „Heute“ erfahrbar zu machen, eben in deiner Küche, in meinem Wohnzimmer oder bei der Wanderung am Siegsteig.
Die Weise, nach dem „Heute“ zu fragen, entscheidet über die Lebendigkeit der Botschaft Jesu und über die Lebendigkeit des Auferstandenen in den Menschen, die heute, die im „Heute“ leben. Erfahrung ist mehr als Erinnerung, sie mag darauf aufbauen, ist aber immer Deutung des selbst Erlebten.
seit es Tage gibt! «
„Momentum“: Eine Zugabe von Roger Willemsen
Die Haltung, in diesem „Heute“ der Erfüllung des Schriftwortes zu leben oder auch nur danach zu fragen und sich daraufhin auszurichten, erzählt – sicher, ohne es zu wissen – Roger Willemsen in einer Episode seines Buches „Momentum“. Willemsen sammelt in diesem Buch Momente, die sich ihm im Laufe seines Lebens und Erlebens eingeprägt haben. Einer dieser Momente spielt in Padua. Willemsen schreibt:
„Padua. Hier, an diesem lichtlosen Gebäude mit dem Stacheldraht über den Mauern, die schon ein Scherbenfries krönt, hier scheidet die Stadt, die heute eigentlich für Menschen in ihrem Wohlstand, für junge, reiche, für verliebte Leute zu existieren scheint, hier scheidet sie an diesem verborgenen, also unscheinbaren, wenn nicht hässlichen Ort die Debilen, Abweichenden, Gesplitterten aus, die laut mit sich reden in der Bahn, die auf der Straße verbissen in ihre Schwäche hineingestikulieren, dumm, gemessen an der Effektivität dieser Stadt, hilflos mit all ihrer jugendlichen, kindlichen Beharrungskraft, dem Pathos ihrer unbeantworteten Möglichkeiten und freien Wertigkeiten, und doch weit innerlicher, auch zartfühlender bewegt. Aus dieser Öffnung in der Mauer schlüpfen sie auf ihren Freigang, als strebten sie ihrer Vermehrung entgegen, und agieren gleich, wie in der chemischen Reaktion mit dem Element der Straße, verworren wie in einem Reflex auf das Milieu der Vernunft, verworren, mit ihren rastlosen, entblößenden Blicken verworren. Und einer in der Gruppe hat gleich nach dem Heraustreten auf den Gehweg nichts Emsigeren zu tun, als vorne am Hosenschlitz ein langes Fädchen zu zwirbeln, und die Verwilderte an seiner Seite bellt tatsächlich den Himmel an mit dem immer neu phrasierten:
‚Heute ist der Tag, auf den wir zuleben, seit es Tage gibt!‘“ [1]
Wie mag das Wort der „Verwilderten“ wohl gestern geklungen haben, wie klingt es heute, und wie wird es morgen klingen? Der Mensch der Spiritualität wird mit diesem Wort, von Roger Willemsen festgehalten, gut leben können: „Heute ist der Tag, auf den wir zuleben, seit es Tage gibt!“
Amen.
Köln, 22.01.2025
Harald Klein
[1] vgl. Willemsen, Roger (2012): Momentum, Frankfurt/Main, 64f.