04. Sonntag im Jahreskreis – Zustände fast wie in Berlin

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Vom Sonntag, der entfällt

Ich hoffe, dass mich nicht der Zorn des Herrn heimsucht, wenn ich am höherrangigen Fest „Darstellung des Herrn“, das am 02. Februar gefeiert wird, doch die Texte des niederrangigen Sonntags bevorzuge. Sie schließen sich nahtlos an den vergangenen Sonntag an, und sie können so wunderbar erschreckend – bzw. so erschreckend wunderbar – in Verbindung mit den Geschehnissen in der Debatte um das „Zustrombegrenzungsgesetz“[1] gelesen werden. Und wenn der Liturgische Kalender der Erzdiözese Köln Auskunft gibt, dass der 4. Sonntag im Jahreskreis in diesem Jahr entfällt[2], dann ist das schlicht falsch! Der Sonntag an sich ist schon da. Er wird nur nach Abstimmung belegt mit anderen Riten, Gebräuchen, Gebeten und Gedächtnissen. Das wurde halt einmal so festgelegt, weniger unter demokratischen  Regeln und unter Einbeziehung des Volkes, aber das kennst du ja![3]

» Es gibt kein richtiges Leben im falschen. «
Adorno, Theodor (1951): Asyl für Obdachlose, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main, 42.

Berlin (gestern) – Rom (vor vier Wochen) – Nazareth (zur Zeit Jesu)

Mit Blick auf die dritte Fußnote unten, deren Inhalt im Haupttext nichts zu suchen hat, mit Blick auf die den Tag überdauernde Debatte in Berlin, losgetreten von Friedrich Merz mit einem Quasi-Brückenschlag zur AfD, sowohl Fraktionszwang als auch Gewissensfreiheit hervorrufend und dann namentlich und dem eigenen Gewissen verpflichtend den Zuschlag gebend: für mich hat bei allen Scherben, die der Tag mit sich brachte, diese Gewissensentscheidung in Berlin das letzte Wort behalten.

Vielleicht ist/war der Synodale Weg so etwas wie eine Hoffnung und ein Versuch, diese Weise der Entscheidungsfindung und dann die Möglichkeiten der Umsetzung der Entscheidung auch in Rom anzugehen. Ich kann mir das Vatikan-Dikasterium Gottesdienste und Sakramentenordnung im Ringen um ihre Entscheidungen – sie sind schon anders gelagert als die Frage nach dem Zustrom von Migrant*innen, oder? – in dieser Weise nicht vorstellen.

Kommen wir zu Nazareth. Da debattiert Jesus mit den Leuten in der Synagoge über seine Predigt (du kennst sie vom letzten Sonntag) und den Schlusspunkt, den er setzte: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt“ (Lk 4,21). Und dann lies die „Debatte“ mal nach: erst Zustimmung und Staunen, was Jesus sagt. Dann Jesu Kritik: Schöne Worte bringen uns in der Sache den Armen gegenüber nicht weiter. Die Zugehörigkeit ist vor Gott genauso belanglos wie die Herkunft! Entscheidend ist vielmehr die Hilfsbedürftigkeit, die Hilfswürdigkeit, die Hilfsfähigkeit , die Hilfsbereitschaft und die helfende Beziehung.[4] Und ich bekomme bei diesen fünf Begriffen, den Implikationen für ein theologisches Sprechen über Menschen in Not den Eindruck, dass Berlin mir da näher ist als Rom! Man könnte vieles dagegenhalten, doch wenn ich „Berlin“ als Platzhalter nehmen, stimmt dieses Gefühl für mich.

Das Ende der Geschichte von Nazareth: Es passt den Leuten in der Synagoge nicht, was sie da hören müssen, sie springen auf und treiben Jesus zur Stadt hinaus, an den Abhang des Berges, an den die Stadt erbaut war, um ihn hinunterzustürzen. Er aber, so erzählt es der Evangelist Lukas, schritt mitten durch sie hindurch und ging weg. Was für ein großartiger Abgang!

Das Ende der Geschichte von Rom: Das Dekret steht. Es ist immer der höherrangige Feiertag zu begehen. Wenn ein Bischof oder eine Bischofskonferenz entscheidet, den dadurch entfallenden kirchlich „gebotenen Feiertag“ auf einen anderen Tag zu verlegen, dann entfällt die Verpflichtung zum Kirchgang an diesem „Ersatztag“. Was für eine entlastende Entscheidung!

Das Ende der Geschichte von Berlin: Wenn es um Gewissensentscheidungen geht, möchte ich nicht zwischen Gewinnern und Verlierern differenzieren müssen. Inwieweit das Zugehen auf diese Entscheidung klug und fair gewesen ist, muss aufgearbeitet sein. Ebenso, inwieweit es um Populismus ging, dem letztlich die oben angeführten Haltungen der Hilfsbedürftigkeit, der Hilfswürdigkeit, der Hilfsfähigkeit, der Hilfsbereitschaft und der helfenden Beziehung geopfert werden sollten, ebenso. Es war ein Ringen mit harten Bandagen, das zu einem knappen und jetzt offenen Ergebnis geführt hat.

» Es gibt kein richtiges Leben im Falschen
Aber es gibt im Falschen eine richtige Richtung. «
von Düffel, John (2024): Das Wenige und das Wesentliche. Ein Stundenbuch, 4. Aufl., Köln, 15.

Heinrich Pestalozzi und Juliane Liebert

Was zu allen drei Zeiten und in allen drei Städten gemeinsam war, war das Ringen um ein „sittliches Leben“, ehemals und ursprünglich verstanden als das Streben nach dem Guten, dem Trachten nach Liebe, dem Verwurzelt sein im Glauben und dem Zurückstellen des Egoismus.[5] Wenn du das „Verwurzelt sein im Glauben“ als das Suchen nach einem verbindenden und freimachenden Geist verstehst, entgehst du den trennenden Differenzen, den konfessionell gesetzten Unterschiede und dem Rangstreit der Religionen und kannst dieses Verwurzelt sein im Begriff der Spiritualität annehmen.

Die Leute in der Synagoge von Nazareth haben dieses sittliche Leben lernen müssen, ebenso wie die Männer in Romund die Parlamentarier in Berlin. Im 18. Jahrhundert hat der Pädagoge Heinrich Pestalozzi diesen Lernweg auf einen guten und bis heute gültigen Begriff gebracht. Von Kind auf soll der Mensch das sittliche Leben fühlen (Herz), dann soll es das Gute tun (Hand), und schließlich folgt die Reflexion (Kopf). Sittliches Leben beruht nicht allein auf Rationalität – das würden sich manche liberalen oder konservativen Politiker*innen sicher wünschen. Es geht in Nazareth, es könnte in Rom und auch in Berlin auch um das „Gemüt“ gehen – um einen weiteren Begriff Pestalozzis einzuführen. In der Entwicklungs- und in der Individualpsychologie, aber auch in der Spiritualität könnte der Begriff „Gemüt“ durch „Haltung“ oder durch „Ausrichtung“ ersetzt werden.

Die Erziehung des Menschen im Dreiklang von Kopf, Herz und Hand zieht sich durch alle Entwicklungsstufen. In Romsehe ich nicht, dass durch Kopf, Herz und Hand ein wirklicher Fortschritt, ein Wachstum sich hat entwickeln können. In Nazareth wie in Berlin ging es letztlich um Haltung, um Ausrichtung – auf die „anderen“ und auf „sich selbst“ hin. Das, was Jesus in Nazareth sagte, riss die Menschen aus den gewohnten Bahnen: Entweder müssen wir uns ändern, oder den da loswerden. Und in Berlin wurde versucht, populistisch das Phänomen der Migration, der Menschen in Not, des größeren Wir totzureden, aber auch der geschürten Angst im eigenen Land und dem „wie es war vor aller Zeit“ zu frönen. Im Sinne Pestalozzis wage ich zu behaupten, dass am Ende des gestrigen Tages in Berlin „Kopf“ und Herz“ der „Hand“ sagten: „Lass uns Wege finden. Gemeinsam!“

Die in Berlin lebende Publizistin Juliane Liebert schreibt nicht von „Kopf, Herz und Hand“, aber von Faust und Herz. Faust und Herz ähneln sich, sind nah beieinander. Mit ihrem Gedicht „grob gefasst“[6] entlasse ich Dich in die Woche. Mach was draus! Ich sag schon mal Amen!

grob gefasst

grob gefasst ist
das menschliche herz
ein kegelförmiges, mandelförmiges
hohlorgan
in etwa so groß wie die faust
des betreffenden

Köln, 01.02.2025
Harald Klein

[1] wie schön, dass zum heutigen Tag die Rechtschreibprüfung bei Word dieses Wort (noch) als fehlerhaft markiert!

[2] vgl. [online] https://www.erzbistum-koeln.de/export/sites/ebkportal/seelsorge_und_glaube/gottesdienst_liturgie/.content/.galleries/downloads/Directorium_2025_Internetversion.pdf[01.02.2025| – hier: S. 23.

[3] Ein kirchliches Schmankerl möchte ich dir noch auf den Weg geben: Wird im umgekehrten Fall ein kirchlicher Feiertag verschoben, weil er auf einen Sonntag fällt, dann ist der Kirchgang am Ersatztag seit dem Beschluss vom 23.01.2025 durch das Vatikan-Dikasterium Gottesdienste und Sakramentenordnung. Das ist doch nun eine wirkliche Beruhigung und eine gute Nachricht angesichts der Brandherde in der Welt. Quelle: [online] https://katholisch.de/artikel/59194-nach-feiertagsverschiebung-keine-erneute-pflicht-zum-messbesuch [01.02.2025]

[4] Die fünf Implikationen einer theologischen Anthropologie für die Soziale Arbeit sind entwickelt von Baum, Herrmann (2000): Anthropologie für soziale Berufe, Opladen.

[5] Die folgende Darstellung der Pädagogik von Heinrich Pestalozzi (1746-1827) verdanke ich Dr. Arthur Brühlmeier, Oberrohrdorf /Schweiz vgl. [online] https://www.heinrich-pestalozzi.de/grundgedanken/erziehung-bildung [01.02.2025]

[6] aus: Liebert, Juliane (2021): ieder an das große nichts, Berlin; in: Worms, Oliver (Hrsg.) (2024) Dreizehn + 13 Gedichte, Themenheft Liebe, Hamburg, 118.