Erinnern an die Sesamstrasse
Am Montag, dem 08. Januar 1973 wurde die erste Folge der Sesamstraße im Fernsehen ausgestrahlt. Der NDR nennt sie den „Pionier des Kinderfernsehens“[1], das es als eigenständige Sparte vorher in (West-) Deutschland überhaupt nicht gab. Die jüngeren „Bayboomer“ können wohl noch den Titelsong in sich hören und ihn vielleicht sogar noch mit- oder vorsingen: „Der, die das, wer?, wie?, was?, wieso?, weshalb?, warum?, Wer nicht fragt, bleibt dumm.“[2]
Und die Fortsetzung nach dem wiederholten Refrain: „Tausend tolle Sachen, / die gibt es überall zu seh’n, / manchmal muss man fragen / um sie zu versteh’n.“[3]
Man glaubt es kaum: Die Sesamstrasse und ihr Titelsong können dir wahrhaftig eine Hilfe sein, dich dem Evangelium von heute zu nähern. Vorweg die Erinnerung, wo wir im Lukas-Evangelium stehengeblieben sind: Zwei Sonntag zurück kommt Jesus in die Synagoge von Nazareth, trägt dort die Stelle von der Befreiung der Gefangenen und der anbrechenden Heilszeit aus der Tora vor und sagt den Menschen in der Synagoge: „Dieses Schriftwort hat sich heute erfüllt!“ Das Evangelium endet mit dieser Zusage, sonntags drauf geht es um die Reaktion der Menschen in der Synagoge: Erst freudige Zustimmen der Menschen, dann ihrem Staunen, ist er doch einer von ihnen, des Zimmermanns Sohn, dann Zorn und der Versuch, Jesus aus der Stadt zu treiben und ihn den Abhang hinabzustürzen. Und dem schönen letzten Satz: „Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg“ (Lk 4,30).
Bis zuletzt wünscht man den Menschen aus der Synagoge von Nazareth die Weisheit der Sesamstraße: „… wer nicht fragt, bleibt dumm!“
Weggefährte Jesu werden
Und jetzt stell dir vor, du wärest damals Jesus ein Weggefährte oder eine Weggefährtin gewesen. Es sind noch ganze dreizehn Verse, die dieses vierte Kapitel des Lukasevangeliums abschließen. Er geht nach Kafarnaum, ein kleines Fischerdorf am See Genezareth. Die wenigen Verse berichten über die Heilung der Schwiegermutter des Petrus – ja, der war verheiratet! – und über die Heilung von Menschen mit allen möglichen Leiden, von Dämonen und Besessenheit, einfach dadurch, dass er ihnen die Hände auflegte. Und du stehst dabei als Gefährte, als Gefährtin, und siehst das alles.
Das Verblüffende: In all den Begegnungen ist keine dabei, in denen irgendjemand irgendeine Frage stellt. Selbst die Dämonen, denen es an den Kragen geht, fragen nicht, stattdessen schreien sie Jesus an: „Du bist der Sohn Gottes“ (Lk 4,41). Die Menschen in Kafarnaum wollen ihn – anders als in Nazareth – nicht mehr weglassen. Jesus stellt jedoch klar, er müsse auch in den anderen Städten das Evangelium vom Reich Gottes verkünden, denn dazu sei er gesandt worden – so zumindest in der Lesart des Lukas.
Berufung zur Weggemeinschaft, zur Gefährten- und Gefährtinnenschaft Jesu
An dieser Stelle setzt das Evangelium des heutigen Sonntags ein – sorry für die lange Einleitung, der Hauptteil wird kürzer! Die Menschen am See, denen sich Jesus jetzt zuwendet, wollen Jesus hören. Er steigt in das Boot des Simon, der später Petrus genannt wird, lässt sich ein wenig hinausrudern, setzt sich und spricht zum Volk. Er ist das WERdieser Geschichte, ihr Subjekt. Wohlgemerkt: hinter ihm, quasi hautnah sitzt Simon und hört ihm zu, sieht jede Bewegung, spürt jede Regung in der Rede Jesu. Das ist das WIE seines Redens. Vom WAS, vom Inhalt der Rede, ist hier bei Lukas allerdings gerade keine Rede! Die Person und seine Weise des Redens scheint genügend Ausweis der Wahrheit der Predigt zu sein – zumindest ist das in der Wirklichkeit des Simon genug![4]
Als wolle Jesus ein Zeichen, einen Beweis der Wahrheit seiner Rede geben, schickt er Simon mit dem Boot hinaus, wo es tief ist – in der lateinischen Bibelübersetzung heißt es „duc in altum“, in etwa „fahre/leite/führe dich in die/in das Tiefe“, es klingt dem, der oder denen, die eine Begegnung mit dem Heiligen suchen, wie ein Richtungshinweis!
Und wieder: da ist keine Frage an Jesus, und das ist keine Frage, das Simon handelt, wie ihm befohlen – vielleicht besser: wie er es gehört, verstanden hat. Das ist der Punkt, wo wir die Sesamstrasse verlassen! Dumm bleibt nicht nur der, der nicht fragt – ok, das sicher auch. In der Dummheit verharrt aber der, verharrt die und verharren alle diejenigen, die – ich verallgemeinere über Jesus hinaus – Worte vernehmen, die den Anschein des Heiligen auf- und ausweisen. Dumm bleiben die, die Menschen begegnen, die überzeugend vom Leben sprechen und ebenso handeln – und die es abtun. In der Dummheit verharren alle, die an ihren alten Mustern hängen – wie die Menschen in der Synagoge von Nazareth – und die nicht in der Lage sind, das, was neu geworden ist, als gottgegeben, vielleicht sogar als heilig anzusehen oder es zumindest daraufhin befragen. In der Dummheit verharren alle, die sich bewusst weigern, in das heilsame Handeln von Menschen, aus denen Heiligkeit hervorleuchtet, einzustimmen bzw. die nicht willig sind, die Idiotie, Machtbesessenheit und den Eigennutz derer, die sich gerne als Heilige und Rettende ausgeben, zu hinterfragen.
Nicht fragen lässt in der Dummheit verharren – fraglos sein kann ein Zeichen sein, gefunden zu haben, oder gefunden worden zu sein!
„Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen. Doch auf dein Wort hin werde ich die Netze auswerfen“ (Lk 5,5) Diese Antwort des Simon ist so etwas wie eine „Jüngerschule des Simon“ schlechthin. Das ist Simon: Mit Jesus in einem Boot sitzen, ihm nahe sein auf schwankendem Boden, ihn sehen und hören, sein Wort aufnehmen und die eigene Wirklichkeit damit in Beziehung setzen. Und dann Antwort geben, in Worten und Taten, aber mehr noch in der Haltung, der Gesinnung, der eigenen Ausrichtung. Das macht die Gefährtinnen- und Gefährtenschaft mit Jesus aus, dieses „duc in altum“ Jesu und das „auf dein Wort hin“ des Simon. Doch diesen Worten geht fraglos alle Begegnung, alles Hören, Sehen alles sinnlich wahrgenommene das, was im Boot zwischen Simon und Jesus geschehen ist, voraus.
Der, die, das Heilige…
Lass mich den Bogen noch ein klein wenig weiter spannen – und das wieder mit Hilfe der Sesamstraße! Ist dir schon mal aufgefallen, dass das Substantiv zu „heilig“ mit allen drei Artikeln angezeigt werden kann? Der Heilige – Die Heilige – Das Heilige! Ich finde es eine schöne Sonntagsaufgabe für dich und für mich, zu jedem der drei grammatikalischen Formen von „Heilige“ fünf Beispiele zu suchen. Es mag sein, dass da der heilige Franziskus, die heilige Teresa von Avila, das heilige Sakrament des Altares vorkommt. Es ist aber auch Platz und Möglichkeit für anderes: der heilige Moment des Erkennens, wie sehr du mir Freund bist, die heilige Zeit, die wir uns Sonntag für Sonntag für- und miteinander nehmen, das gemeinsame Kochen, Reden, Teilen, das uns verbindet.
Heiliges geht durch alle Geschlechter, oder braucht vielleicht gar kein Geschlecht. Für eines scheinen mir die Evangelien dieses und des letzten Sonntags einzustehen: Wenn dir der Heilige, die Heilige, das Heilige begegnet, brauchst du keine Fragen mehr zu stellen – es ist vom Wesen her, aus sich heraus evident, einleuchtend. Und wenn der Heilige, die Heilige, das Heilige in dein Boot steigt, dann, weil er/sie/es dich und deine Nähe sucht, nicht um seinet-, sondern um deinetwillen: „Sie fingen eine große Menge Fische, ihre Netze drohten zu reißen. Und sie gaben ihren Gefährten im andern Boot ein Zeichen, sie sollten kommen und ihnen helfen. Sie kamen und füllten beide Boote, so dass sie fast versanken“ (Lk 5,6f).
Das Evangelium des letzten und dieses Sonntags stehen dafür, dass es zu Beginn des Weges Jesu und zu Beginn deines Weges mit Jesus um die Gefährtenschaft Jesu geht – im genitivus subjetivus und im genitivus objektivus zu verstehen: Er ist Dir Gefährte (gen.subj.) – und Du bist ihm Gefährte oder Gefährtin (gen.obj.). Du erkennst diese Gefährtenschaft daran, dass sie nahezu fraglos ist. Du erkennst sie an einem weit gespannten Bogen, unter dem sie gewirkt wird und lebendig ist. Und du erkennst sie an ihrer unterscheidenden Wirkung und am vom Leben prall gefüllte Netz: „Tausend tolle Sachen, / die gibt es überall zu seh’n, / manchmal muss man fragen / um sie zu versteh’n.“[5]
Alsdann: „duc in altum“ – lass uns aufbrechen, eher freudig erwartungsvoll als unsicher fragend, in die Tiefe, in die Weite, in Gefährtenschaft mit ihm und untereinander.
Amen.
Köln, 07.02.2025
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://www.ndr.de/der_ndr/unternehmen/sesamappe100.pdf [06.02.2025]
[2] vgl. [online] https://www.smule.com/song/sesamstrasse-der-die-das-das-sesamstrasse-lied-karaoke-lyrics/152506657_1081014/arrangement [06.02.2025]
[3] ebd.
[4] zum Zusammenhang und zur Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit vgl. [online] https://www.harald-klein.koeln/unterscheidung-und-zusammenspiel-von-wahrheit-und-wirklichkeit/ [06.05.2025|
[5] vgl. Anm. 2..