06. Sonntag im Jahreskreis – Heruntergekommen

  • Anstößig - Darüber lohnt es zu reden
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Begegnung mit Heruntergekommenen

Heruntergekommen: Das Wort hat keinen guten Klang, und wenn du dich an den Bahnhöfen der Großstädte aufhältst oder die Enge der überfüllten Straßenbahn hinnehmen musst, kann es sein, dass du die Nase im doppelten Sinne voll hast von denen, die heruntergekommen sind oder zu sein scheinen. Manchmal wirst du neben der Verärgerung auch ein wenig Entsetzen oder Mitleid empfinden können, gut so. Das mag ein Zeichen dafür sein, dass das Menschliche in dir, in mir, in uns noch eine Rege- und eine Prägekraft hat. Es liegt ja auf der Hand: von jemandem zu sagen, er oder sie sei „heruntergekommen“, können nur die, die entweder spottend irgendwie „oben“ stehen, oder die, die die Heruntergekommenen auf Augenhöhe bei sich empfangen und aufnehmen, weil sie selbst auch unten sind.

» Falls Sie gerade mit dem Schreiben angefangen haben, würde ich [...] zunächst die Grundlagen trainieren und versuchen, weitgehend ohne Darlings auszukommen. «
Wells, Benedict (2024): Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und Leben, Zürich, 223.

Bergpredigt vs. Feldrede

Ich lese gerade mit viel Freude Benedict Wells‘ Buch „Die Geschichten in uns“[1], in denen er von seinem Schreiben und seinem Leben erzählt und mich mit meinem Schreiben und Leben einfach mit hineinnimmt. Ich mache den Kreis weiter und nehme meinerseits die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas mit dem heutigen Evangelium mit hinein.

Die Geschichten in uns: Alle Jahre wieder, am Allerheiligentag, beginnt das Evangelium nach Matthäus mit den Worten „In jener Zeit, als Jesus die vielen Menschen sah, die ihm folgten, stieg er auf den Berg….“, vermutlich weißt du, was folgt: die Seligpreisungen eben, die als die „Bergpredigt“ einen festen Platz in der christlichen Frömmigkeit haben. Jesus wird nicht nur als „Aufsteiger“ dargestellt. Matthäus versucht ihn an vielen Stellen als einen „neuen Moses“ zu interpretieren. Die Berge in seinem Evangelium sind immer so etwas wie ein anderer Sinai, sei es der Berg der Seligpreisungen, der Berg der Verklärung, der Ölberg mit dem Garten Gethsemane, sei es sogar Golgotha, der Berg der Kreuzigung. Jesus ist bei Matthäus der von Gott bestimmte „Aufsteiger“, der nach dem Gesetz des Mose, den Zehn Geboten, ein neues Gesetz verkünden soll und der von Gott dazu bestimmt ist, Gottes Volk aus der Knechtschaft zu befreien.

Wells spricht in seinem Buch über die „Geschichten in uns“ von den „Darlings“ der Autorinnen und Autoren. Das können eigene Schreibstile, Metaphern, liebgewordene Adjektive oder Adverbien sein. Er rät denen, die mit dem Schreiben beginnen: „Falls Sie gerade mit dem Schreiben angefangen haben, würde ich […] zunächst die Grundlagen trainieren und versuchen, weitgehend ohne Darlings auszukommen. Keine Fremdwortkaskaden, keine prätentiösen Schachtelsätze, kein manierierter Ton, kein ständiges Raunen zukünftiger Ereignisse, keine bemühten Formulierungen, und wenig Adjektive. Stattdessen klare Sätze, die die Handlung von A nach B bringen. Das einfache Erzählen ist schwer genug.“[2]

Jesus als dem neuen Mose Ausdruck zu verleihen, dies in Worten, Phrasen, Begegnungen, Heilungen und sogar am Kreuz, das scheint mir in der Sprache von Benedict Wells ein „Darling des Matthäus“ zu sein.

Aber heute liest du oder hörst du das Evangelium nach Lukas. Und Achtung: das beginnt mit den Worten „In jener Zeit stieg Jesus mit den Zwölf den Berg hinab…“ Jesus der Absteiger, der Herunterkommende, der Heruntergekommene. Der Rest ist nahezu mit den Seligpreisungen der Bergpredigt bei Matthäus identisch. Bis auf ein paar markante Unterschiede: Der hinabgestiegene, der heruntergekommene Jesus richtet seine Augen auf die Jünger, ist auf Augenhöhe mit ihnen und uns. Er hat seinen Platz „hier unten“ gefunden und angenommen. Ein sympathischer Heruntergekommener! Er wendet sich sogar mit Wehrufen an die Reichen, die Satten, an die, die jetzt lachen und die auf das Lob der anderen aus sind. Wenn ich an den Einstieg ganz vorn denke – an die, die die Nase voll haben von den Heruntergekommenen, und denen der Funke Entsetzen und Mitleid verlustig gegangen ist.

» Eine Poesie der Einfachheit ist für mich große Literatur, im Sinne Schopenhauers: ‚Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge. «
Wells, Benedict (2024): Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und Leben, Zürich, 221.

Eine Poesie der Einfachheit

Beim Lesen der Texte, im Stehen zwischen Feldrede und Bergpredigt, reißt es mich hin und her.

Jesus als „neuer Mose“, der „Aufsteiger“, der auf dem Gipfel, der ganz oben ist – vergleichbar mit dem verkündetenChristus in den Gottesdiensten, vor dem ich in die Knie gehen soll, dessen Gottsein das Menschsein aufzusaugen vermag… – ich merke, wie sehr es mich ärgert, wie mehr und mehr unverständlich mir dieser „Darling“ wird.

Oder Jesus als der „Absteiger“, der herunterkommt in die Ebene meines Lebens, der mit mir in einem Boot sitzt, auf Augenhöhe – vergleichbar mit dem Bruder und der Schwester neben mir, der mir Freund und die mir Freundin, Gefährte und Gefährtin ist, denen ich es sein darf und deren Menschsein das Gottsein zu illustrieren vermag…

Vielleicht ist es das, was Benedict Wells mit seiner Poesie der Einfachheit meint: „Eine Poesie der Einfachheit ist für mich große Literatur, im Sinne Schopenhauers: ‚Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.‘“[3]

Matthäus und sein Programm von Jesus als dem zweiten Mose braucht Wissenschaft, braucht Theologie, um werbend auszudrücken, was er meint. Lukas und seine Idee von Jesus als dem neuen Menschen in Wort und Tat kommt einer Poesie der Einfachheit nahe, gewöhnliche Worte, gewöhnliche Menschen, um ungewöhnlichen Dingen Ausdruck zu verleihen. Es sind die Heruntergekommenen, die dem Ungewöhnlichen Ausdruck verleihen können.

Man möchte hoffen, dass manche institutionellen „Würdenträger“ einfach mal „herunterkommen“.

Amen.

Köln, 15.02.2025
Harald Klein

[1] Wells, Benedict (2024): Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben, Zürich.

[2] a.a.O., 223.

[3] a.a.O., 221.