06. Sonntag im Jahreskreis – Vom Umgang mit Aussatz in der Postmoderne

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Unbeabsichtigte Aktualität

Wenn heute im Evangelium von dem einen Aussätzigen und in der ersten Lesung von den Kennzeichen des Aussatzes und den vielen Aussätzigen die Rede ist, komme ich an der Corona-Pandemie, in der wir uns befinden, nicht vorbei. Gefühlt bedauerlicherweise sind die beiden Texte irgendwie topaktuell. Das geht soweit, dass die erste Lesung in Tagesschau- oder Talk-Show-Manier dem zuschauenden und zuhörenden Volk klar vorlegt, wie sich der Aussatz zeigt: „Wenn sich auf der Haut eines Menschen eine Schwellung, ein Ausschlag oder ein heller Fleck bildet und auf der Haut zu einem Anzeichen von Aussatz wird, soll man ihn zum Priester Aaron oder zu einem seiner Söhne, den Priestern, führen. Der Priester soll ihn untersuchen. Stellt er eine hellrote Aussatzschwellung fest, der wie Hautaussatz aussieht, so ist der Mensch aussätzig; er ist unrein. […] Er soll abgesondert wohnen außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten.“ Man hört förmlich die Virologin Melanie Brinkmann und ihre Kollegen Christian Drosten und Karl Lauterbach hinter solchen Worten.

» Du wurdest geboren,
um die Herrlichkeit Gottes
zu verwirklichen,
die in uns ist.
Sie ist nicht nur
in einigen von uns,
sie ist in jedem Menschen. «
Nelson Mandela (1981-2013)

Reden über – die Rolle der Inzidenzzahlen

Hier, in dieser ersten Lesung, wird allerdings über etwas, über den Aussatz und über den möglichen Aussätzigen geredet. Sachliche Kriterien und deren Konsequenzen werden benannt. So gehen wir in unserem Stamm, in unserer Community, in unserer Familie vor, wenn es einen erwischt. Und in heutigen Corona-Zeiten spielt dann die Inzidenz-Zahl eine große Rolle. Veränderungen in Sachen Verhaltenskodex und Quarantäne sind erst zu erwarten und zu verantworten, wenn die Inzidenz-Zahl einen bestimmten Wert unterschritten hat. In Deutschland gibt die „Sieben-Tage-Inzidenz“ an, wie viele Neuinfektionen es in den letzten sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern gab, besser: wie viele Menschen bei einem Corona-Test ein positives Ergebnis hatten. Wir bewegen uns hier im Bereich der positivistischen Wissenschaft, der Empirie, in der das Messbare und Beschreibbare zu Ergebnissen führen – die aber auch willkürlich sein können; so ist es doch schon sehr bemerkenswert, dass im Bund-Länder-Gespräch vom 10.02.21 der Inzidenzwert von 50 auf 35 gesenkt wurde, ab dem dann Schutzmaßnahmen greifen bzw. gelockert werden.

Reden mit – die Rolle des Mitgefühls

Anders das Evangelium. Hier spricht Jesus nicht über, sondern mit einem Aussätzigen. Der weiß sich nicht nur aussätzig, sondern erfährt sich auch ausgesetzt. Er ist draußen vor, gemäß dem Gesetz der Priester. Wahrscheinlich ist es genau dieses doppelte Wissen, dieses doppelte Erfahren, das ihn vor Jesus in die Knie zwingt: „Er fiel vor ihm auf die Knie und sagte: ‚Wenn Du willst, kannst Du mich rein machen.‘“ Es ist genau dieses Geheimnis, diese Wirkmacht der Begegnung, und es ist der Geist, der in Jesus und in dem Jesus lebt und wirkt, die jetzt nicht auf Inzidenzzahlen und Ansteckungsgefahr rekrutieren. „Jesus hatte Mitleid mit ihm, er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: ‚Ich will – werde rein!‘“ Mitleid, vielleicht besser: Mitgefühl; das empathische Einfühlen in das Ausgesetztsein des Aussätzigen, die ausgestreckte Hand, das Berühren – wie gesagt: ungewollt hoch aktuell. In Corona-Zeiten: Wie steht es um das Austarieren zwischen Objektivität und Subjektivität, zwischen Wissen um Risiken und Handeln dem anderen und mir selbst gegenüber? Wie verhalten sich und wie verhandeln Mitgefühl und Vernunft?

» Die Blockwarte des rechten Glaubens weisen Jesus und seine Jünger zurecht, weil sie von der Konvention abweichen. «
TE DEUM. Das Stundengebet im Alltag, Heft Januar 2021, Maria Laach/Stuttfart, 204.

Eine aussätzige Gesellschaft – und eine aussätzige Kirche

Ich möchte Sie aber gerne auch mitnehmen zu einigen Gedanken, die über Lesung und Evangelium hinausgehen und die mich angesichts dieser Texte und mit Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge beschäftigen.

Da sind als erstes im Buch Leviticus, in der ersten Lesung, die Anzeichen, die aufgezählt werden, um einen Aussätzigen zu kennzeichnen und dann zu brandmarken, ihn abzusondern. Lassen Sie mal Corona oder andere Krankheit hinter sich, und schauen Sie sich das Leben in einer postmodernen, postfaktischen Gesellschaft an. Welche „Anzeichen“ und „Merkmale“ fallen Ihnen ein, um jemanden als „aussätzig“ zu kennzeichnen und ihn deswegen ab- oder sogar auszusondern? Was ist aus welchem Grund „gesund“, was „krank“? Und was könnte sich verändern, wenn Sie mit den entsprechenden Menschen stattüber sie redeten? Zugegeben: Es könnte passieren, dass Ihre eigenen Maßstäbe dadurch ins Schwanken geraten. Aber Sie können nur gewinnen. Entweder an eigener „alter“ Sicherheit oder an neuer Weite. Es kostet Sie nichts, nur Mut, und vielleicht auch Überwindung. Aber Sie haben nichts zu verlieren.

Da ist als zweites die Anweisung aus dem Buch Leviticus, man möge den Aussätzigen zum Priester bringen, damit er ihn auf Aussatz hin untersuche. In der momentanen Diskussion hat sich das ja völlig umgedreht. Es stimmt nicht, würde man sagen, die Priester und die Kirche, der sie angehören, seien die Aussätzigen von heute, soweit geht die Kritik nicht. Aber sie setzt an beim Erscheinungsbild der institutionalisierten Kirche, bei Zweifel an Glaubwürdigkeit der geweihten Vertreter und deren Verhalten, beim Unrecht, das in vielfältiger Weise geschehen ist und beim Unverständnis über altbackene Lehrmeinungen und Vorstellungen über Leben und Lebendigkeit. Um die Regelung der ersten Lesung aufzugreifen: Weil sie (die Kirche) den Aussatz in sich trägt, möge sie abgesondert wohnen und sich außerhalb des Lagers, außerhalb der Gesellschaft aufhalten, für sie ist kein Platz mehr in der Gesellschaft, mehr als 20 Jahre Überlebenszeit kann man sich nicht mehr vorstellen, und mehr und mehr Kirchenzugehörige geben ihren Platz in dieser Kirche – und als Gläubige nicht ihren Glauben! – durch Austritt auf. Wie gehe ich, wie gehen Sie mit dieser „Umkehrung“ um? Eines ist klar: Wegducken geht nicht.

» Es geht ja nicht darum, das Sprechen über oder von Gott überhaupt als etwas Unchristliches zu verbieten. Allerdings geht es darum, dass ein 'Apostel, ein 'Gesandter Gottes', eben nicht und niemals ein 'Schriftgelehrter' sein kann, kein Zeichenfabrikant, kein akademischer Dozent des Objektiven; er muss gerade umgekehrt ein Bekenner sein, ein Verkündiger des persönlich Verbindlichen, ein Zeuge dessen, was ihn selbst von Gott her heil gemacht hat. «
Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 193.

Auch hier gilt: Reden „mit“ – nicht: Reden „über“

In diesem Zusammenhang rührt mich der Beginn des Evangeliums. Noch einmal: „In jener Zeit kam ein Aussätziger zu Jesus und bat ihn um Hilfe; er fiel auf die Knie und sagte: Wenn Du willst, kannst Du mich rein machen. Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es – werde rein.“

Es hilft nicht und führt nicht weiter, über das zu reden, was als aussätzig empfunden wird! Das mag zu Selbstrechtfertigung und Abwehr führen, mehr nicht. Es hilft, in einer Art Selbstgespräch mit dem zu „reden“, in Kontakt zu kommen, was ich, was andere an mir oder an der Kirche als „aussätzig“ empfinden, um es anzunehmen. Und es hilft, mit denen zu reden, von denen ich mir Hilfe erwarten darf, in der Haltung des Demütigen, mit der Bitte (nicht mit dem vermeidlichen Rechtsanspruch) um Unterstützung.

Das setzt Mut und Demut bei der einen Seite voraus, und es setzt Mitgefühl, Mitleid bei der anderen Seite voraus. Verlangen kann es keiner vom anderen. Und umso schöner, umso tiefer und heilender sind die wenigen Worte, die Jesus tut: „Ich will es – werde rein!“ Dieses „Ich will es! möchte ich mit in die neue Woche nehmen, wissend, dass ich es von beiden Seiten her sagen kann. Und ich biete es Ihnen an, es gleichzutun, vielleicht auch es gleich zu tun.

Amen.

Köln 12.02.2021
Harald Klein