Jesus wird zu dem, der er ist
Zwischen dem zweiten und dem dritten Kapitel des Lukas-Evangeliums liegen gut 20 Lebensjahre Jesu. Das zweite Kapitel endet nach der Geburtsgeschichte und der Begegnung Marias mit dem Propheten Simeon und der Seherin Hanna mit dem 12jährigen Jesus im Jerusalemer Tempel. Das dritte Kapitel setzt dann mit der Begegnung Johannes‘ des Täufers mit Jesus und mit dessen Taufe an, für unsere Ohren ein wenig unbeholfen schließt das Kapitel mit der Aufzählung der Vorfahren Jesu. Es zeigt Jesus als etwa dreißig Jahre alt, als er zum ersten Mal öffentlich in Nazareth und Kafarnaum auftrat.
Auf seinen weiteren Weg von Galiläa nach Jerusalem bereitet Jesus sich jetzt vor! Lukas schreibt zu Beginn des vierten Kapitels: „Erfüllt vom Heiligen Geist, verließ Jesus die Jordangegend. Darauf führte ihn der Geist vierzig Tage lang in der Wüste umher, und dabei wurde Jesus vom Teufel in Versuchung geführt. Die ganze Zeit über aß er nichts; als aber die vierzig Tage vorüber waren, hatte er Hunger“ (Lk 4,1f).
Vom Teufel in Versuchung geführt, dreimal – aus Steinen Brot machen (der Hunger des Leibes); alle Reiche der Erde zur Herrschaft angeboten gekommen (der Hunger nach Macht); sich vor dem Satan niederwerfen und ihn anbeten (Hunger nach Geltung und Ansehen). Du magst selbst nachlesen, wie Jesus darauf reagiert, nur so viel: alle Weigerungen begründet er aus dem „Gesetz“, aus der „Tora“, aus der Schrift Israels, von außen, könnte man sagen.
"Und führe uns NICHT in Versuchung"
kann in der Phönixerfahrung
die Sicherheit des
"Führe uns IN der Versuchung"
werden. «
Nachsinnen über Versuchung
Dem Begriff der Versuchung kommst du wirklich nur ansatzweise auf die Spur, wenn du an die „zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“ denkst. Das gilt für andere Formen genauso wie für jede „Versuchung“, nach der du die Hand austrecken magst, weil sie dich irgendwie „anmacht“, dich „verlockt“.
Versuchung liegt tiefer. Dem Hunger des Leibes stellt Lukas in der Versuchungsgeschichte den Hunger nach Macht, nach Geltung und nach Ansehen zur Seite. Mehr sein wollen als du bist, über dich hinaus – zwar nicht – „wachsen“, sondern dich „hinaus lügen“, um das geht es. Der Versuchung in deinem Leben magst du mit den Beispielen aus der Bibel oder den Worten Jesu begegnen wollen (und können) – im Erfüllen dessen, was dir von außen her angeboten wird. Ein anderer Weg ist der Weg, den du von innen her gehen kannst. Da geht es um den Prozess des Wahrnehmens, des Unterscheidens, des Entscheidens und der Entschiedenheit: Der Hunger des Leibes – wonach greifst du, um ihn zu stillen? Der Hunger nach Macht – was vermagst du an den Orten, an denen bzw. bei den Menschen, mit denen du lebst, inklusive deiner selbst? Der Hunger nach Geltung und Ansehen – wie sehen und bewerten dich die anderen, wie siehst du dich selbst, wo schließt du die Augen, wo hast du einen blinden Fleck? Und vor allem: Wie sieht da „Entwicklung“ und „Wachstum“ aus?
Die Phönixerfahrung als dein Wüstenort
Solche Fragen können dem nahekommen, was Anne Vorjahr unter „Phönixerfahrung“ beschreibt.[1] Diese Erfahrung beinhaltet sechs Schritte:
(1) Die große Vorbereitung: Wenn der Phönix spürt, dass seine Zeit gekommen ist, dass eine große Veränderung ansteht, trägt er die wertvollsten Materialien zusammen, um sein Nest zu bauen und sich auf das Ende vorzubereiten. – Der Blick geht nicht auf das, was verändert, verbessert werden mag, sondern auf das und auf die, was du und die du an Wertvollstem besitzt.
(2) Die Zerstörung: Die große Veränderung bricht über den Phönix herein. Die einzige Aktivität, die ihm möglich ist: Er erlaubt den Sonnenstrahlen, sein Nest in Brand zu setzen. – Da braucht es Vertrauen oder Durchhaltekraft, in dieser Bereitschaft des Hingebens und der Hingabe, des Seinlassens und des es Sein lassenden.
(3) Der Zerfall: Alles um ihn herum und zum Schluss der Phönix selbst zerfällt zu Asche. – Mich fasziniert die Parallele zum Aschermittwoch. Da bleibt nichts von dir, aber nicht, um dich ins Nichts zu stoßen!
(4) Eine neue Normalität: Der Phönix stirbt. Er sieht – und du siehst an seiner statt – alles in seiner/deiner Welt für immer verändert. Mit dem Phönix in dir stirbt auch ein Teil deines Selbstbildes.
(5) Die Geburt: Der neue Phönix wird geboren. Die Rückzugsorte sind dir genommen, nur oder mindestens vor allem deine Seele ist dir geblieben. An diesem Ort gilt es, den neuen Tag, das neue Leben zu erwarten – ohne zu wissen, wie dieses Leben aussieht, und ohne es kontrollieren zu können. „Alles, was neu geboren werden will, braucht seine Zeit.“[2]
(6) Das neue Leben: Der junge Phönix breitet seine Flügel aus. – Das Unterscheiden in deiner Seele hat Formen angenommen, hat zur Entscheidung geführt. Jetzt gilt es, mit den ausgebreiteten Flügeln des jungen Phönix in Entschiedenheit zu fliegen.
Beten heißt nicht, sich selbst reden hören.
Beten heißt still werden und still sein
und warten, bis der betende Mensch, Gott hört. «
Die Stimmen in Dir – und der unendliche Wind
In der „Phönixerfahrung“ von Anne Vonjahr werden dir deine „inneren Bewohner“ – ihre Umschreibung für die „Archetypen“ des Carl Gustav Jung und seiner Analytischen Psychologie für diese Reise des Phönix zur Seite gestellt. Sie seien nicht in der Realität vorhanden, eher kannst du sie als ein psychisches Prinzip verstehen, als in Verhaltensmuster oder eine Art und Weise, wie sich jemand zum Ausdruck bringt.[3] Aus dem „führe uns nicht in Versuchung“ des Vaterunsers wird das „führe mich/führt mich in der Versuchung“. In den kommenden Sonntagen komme ich darauf zurück.
Merkst du, wie sehr dieses Angebot der „Phönixerfahrung“ und ihrer sechs Stationen, aber auch das Bild der inneren Bewohner mit der Frage nach den Versuchungen beim Hunger des Leibes, der Macht, der Geltung und des Ansehensgreift? Zwei Worte aus der christlichen Spiritualität will ich dir in dieser Situation an diesem Sontag anbieten.
Das erste passt in die Situation Jesu in der Wüste und in die erste Station der Phönixerfahrung: Veränderung und Veränderungsbedarf spüren und Zusammentragen dessen, was dem Phönix (in dir) wichtig ist. Es stammt von Sören Kierkegaard (1813-1855): „Beten heißt nicht, sich selbst reden hören. Beten heißt still werden und still sein und warten, bis der betende Mensch Gott hört.“[4]
Das zweite passt in die Situation des jungen Phönix, der seine Flügel ausbreitet. Es stammt von P. Alfred Delp SJ, der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges in Berlin-Plötzensee wegen seiner Mitarbeit in der Widerstandsbewegung des Kreisauer Kreises hingerichtet wurde: „Man muss die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“[5]
Irgendwie greift da die „zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“, aber auch alles andere, was dich anmacht oder z.B. auf der Waage zur Last wird, zu kurz. Ich wünsche dir und mir für den Start in die Fastenzeit ein gutes Zusammentragen – vielleicht am ehesten in einem kleinen Notizbuch – Deiner wertvollste „Materialien“ in dir und um dich herum. Und dann mag die Reise des Phönix in dir, in uns beginnen.
Amen.
Köln, 05.03.2025
Harald Klein
[1] vgl. Anne Vorjahr (2023) Die Phönixerfahrung. Wie du auf einer magischen Reise deine Schatten heilst und dein wahres Selbst erkennst, München, 54-59.
[2] a.a.O., 57.
[3] vgl. a.a.O., 31f.
[4] Leider ist mir die Quelle nicht bekannt. Der vollständig zitierte Text lautet: „Als mein Gebet immer andächtiger und innerlicher wurde, da hatte ich immer weniger und weniger zu sagen. Zuletzt wurde ich ganz still. Ich wurde, was womöglich noch ein größerer Gegensatz zum Reden ist, ich wurde ein Hörer. Ich meinte erst, Beten sei Reden. Ich lernte aber, dass Beten nicht bloß Schweigen ist, sondern Hören. So ist es: Beten heißt nicht, sich selbst reden hören. Beten heißt still werden und still sein und warten, bis der betende Mensch, Gott hört.“
[5] P. Alfred Delp SJ, Meditationen zur Weihnachtsvigil 1944, vgl. [online] https://www.jesuiten.org/news/man-muss-die-segel-in-den-unendlichen-wind-stellen [05.03.2025]