Der erste Blick
Wenn Sie möchten, schauen Sie jetzt, beim Lesen, mal aus dem Fenster. Was sehen Sie auf den ersten Blick, oder vielleicht auch: wen sehen Sie auf den ersten Blick? Was wissen, was ahnen, was glauben Sie von den Dingen oder den Menschen, die Ihnen da auf den ersten Blick begegnen?
Auf den ersten Blick sieht Jesus – zumindest im heutigen Evangelium – schlicht viele Menschen. Er ahnt oder glaubt, dass sie müde und erschöpft seien, wie Schafe, die keinen Hirten haben. Es gebe nur wenig Arbeiter, sagt er seinen Jüngern, und dann: „Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!“ Das klingt nach „Macht Euch selbst die Finger nicht dreckig, bittet, dass andere den Job übernehmen.“
Das kann es ja wohl nicht sein!
Die Namensnennung
Aus der Schar derer, die mit ihm gehen, aus seinen Jüngern also, ruft er daher dann die Zwölf heraus und zu ihm, die an seiner statt gehen sollen, die er als Gesandte, als Apostel einsetzt. Sie werden im Evangelium beim Namengenannt, es geht wesentlich um sie, so wie sie sind, wie sie geworden sind und wie sie einmal sein werden!
In jedem von den Zwölfen geschieht – wie bei Ihnen und wie bei mir – Veränderung. Der, der an erster Stelle steht, Simon, wird jetzt Kephas, der Fels genannt. Später wird aus dem Saulus ein Paulus. Die beiden – man könnte sagen – Speerspitzen der frühen Kirche haben in der Auseinandersetzung mit Christus und mit der Welt, in die sie gesandt sind, mit ihrem Namen ihr ganzes Wesen verändert, oder umgekehrt: mit ihrem Wesen ihnen Namen verändert.
Das scheint mir wichtig für diese Erzählung: gesendet, an Jesu statt gehend sind all die, die ihren Namen (und damit ihr innerstes Wesen) zumindest erahnen, die sich von etwas innerhalb ihrer oder jemand außerhalb ihrer „angerufen“[1] wissen und die eine Bereitschaft zum Gehen, zur Begegnung und zur inneren wie äußeren Veränderung haben – und an Jesu statt gehend setzt voraus, diesen Jesus in sich „innerlich“ zu wissen und ihn „äußerlich“ auf den ersten Blick zu sehen, zu erahnen, zu erkennen.
„Geht!“ geht doch
„Diese Zwölf sandte Jesus aus“, heißt es weiter. In dieser Aussendung gebietet (ein starkes Wort!) Jesus ihnen: „Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ Als sei es eine Begründung für diese sechs Imperative schließt er seine Aussendung der Zwölf mit „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben!“ Es lohnt über dieses „Umsonst“ nachzudenken!
Jetzt aber zurück zum Anfang, oder „Zurück auf Los!“: Wenn Sie möchten, schauen Sie jetzt, nach dem Lesen, mal aus dem Fenster. Was sehen Sie jetzt auf den ersten Blick, oder vielleicht auch: wen sehen Sie jetzt auf den ersten Blick? Was wissen, was ahnen, was glauben Sie von den Dingen oder den Menschen, die Ihnen da auf den ersten Blick begegnen?
Die religiöse Frage – zumindest nach Hartmut Rosa – ist: Lassen Sie sich anrufen von dem, was bzw. von denen, die Sie da sehen, auf den ersten Blick? Es sind diese Anrufungen, und (noch einmal Hartmut Rosa) es ist das „hörende Herz“, das einen Resonanzboden darstellt für das, was Sie wahrnehmen, und das Sie dann in einen „Aufbruch“ lockt.
„Geht, verkündet, heilt, weckt auf, macht rein, treibt aus“: das „Geht!“ Jesu geht doch, auch heute, auch bei und mitIhnen, oft genug durch und auch für Sie, vielleicht, ohne dass Sie es merken.
Amen.
Köln, 15.06.2023
Harald Klein
[1] In seinem Büchlein „Demokratie braucht Religion“ (München, 8. Aufl. 2023) betont der Jenaer Soziologe die Notwendigkeit von „Religion“ für Demokratie. In einem Interview des Deutschlandfunks erläutert er den Begriff der „Religion“ mit „von einer Größe/von etwas von außen kommendem angerufen werden“, vgl. [online] https://www.deutschlandfunk.de/demokratie-braucht-religion-der-soziologe-hartmut-rosa-im-gespraech-dlf-bea5aa62-100.html [15.06.2023]