11. Sonntag im Jahreskreis: Kinder erkennen sich am Gang

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Erklären, was der Klarheit entbehrt

Sehr früh als Kind, mit fünf oder sechs Jahren, habe ich meine Mutter einmal gefragt, was das „Jüngste Gericht“ sei. Ich weiß nicht mehr, wo ich den Begriff aufgeschnappt habe, vermutlich bei einer meiner Großmütter, die sehr katholisch reden konnte. Heute habe ich Hochachtung vor meiner Mutter wegen ihrer Antwort, sie musste ja etwas erklären oder klar machen, was jeder Klarheit entbehrt. Am Himmel werde ein großes Kreuz erscheinen, war ihre Antwort, daran könne man es den Beginn des „Jüngsten Gerichts“ erkennen, und dann würde geschaut, was für ein Mensch man denn gewesen sei.

Diese Form von „Klarheit“ löste bei mir aus, dass ich selbst beim Gang auf die Toilette aus dem kleinen Fener zum Himmel schaute, ob sich dort vielleicht gerade ein großes Kreuz abzeichne. Und es brauchte keine Chemtrails-Theorien, die in den Verschwörungstheorien von Chemikalien und Giften erzählen, die auf uns ausgegossen werden – ich hatte vor jedem Kondensstreifen eines Flugzeuges Angst, dass gleich ein entsprechender Querstreifen den Längsstreifen zum großen Himmelskreuz ergänzen werde. So viel zur kindgemäßen Verkündigung der „Frohen Botschaft“ – und dennoch rechne ich meiner Mutter ihren Erklärungsversuch hoch an.

» Was waren dein größten Schätze
als du ein Kind warst, weißt du noch... «
Hoffmann, Klaus (1993): Kinder erkennen sich am Gang, aus dem Album "Mit Freunden" von 2011

Vom Reich Gottes in Gleichnissen reden

„Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn…“ – mit diesen Worten Jesu beginnt das heutige Evangelium. Und es folgen das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat und vom Senfkorn; Du könntest der Vollständigkeit halber noch die Gleichnisse vom Sämann und vom Sauerteig dazunehmen. Alle diese Gleichnisse haben einen ähnlichen Aufbau: Sie zeigen initiativ einen Menschen, der etwas gestaltet, z.B. Samen auf einen Acker säen, das kleine Senfkorn sich entwickeln und wachsen lassen, auf verschiedenen Böden das eine Saatgut aussäen, einen Sauerteig an- und dann einsetzen. Und sie zeigen in der Konsequenz, dass sich vieles ganz ohne das Zutun des Menschen entwickelt, z.B. dass die Ähre die Frucht bringt, dass aus dem Samenkorn ein Baum erwächst, dass verschiedene Böden verschiedenfache Frucht erwachsen lässt, und dass die kleine Menge Sauerteig, einmal eingesetzt, von sich aus den ganzen Teig im Trog durchsäuert.

Jesu Gleichnisse sind alle der Lebenswelt der Menschen seiner Zeit entnommen, im Unterschied zu all dem, was in den Dogmen einer jeglichen Religion erklärungsbedürftig ist, sind Gleichnisse selbstredend und selbsterklärend – zumindest für die, die sie hören möchten. Der Menge, so sagt es das Evangelium, verkündete Jesus das Wort durch viele solcher Gleichnisse, so wie sie es aufnehmen konnten. Er redete nur in Gleichnissen zu ihnen. (vgl. Mk 4,33-34a). Aber spannend ist der Nachsatz: „Seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn sie allein waren“ (Mk 4,34b).

» Was waren die geheimsten Pläne
Als du ein Kind warst, weißt du noch... «
Hoffmann, Klaus (1993): Kinder erkennen sich am Gang, aus dem Album "Mit Freunden" von 2011

Die Gleichnisse vom Reich Gottes erklären?

Stell Dir Du, Du würdest Deine Mutter als kleines Kind bitten, Dir zu erklären, was das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat meint, oder das Gleichnis vom Senfkorn. Da ist doch eigentlich alles klar, oder?

Jetzt wird es ein wenig kompliziert: Die Sprachphilosophie unterscheidet die Semantik, die die Bedeutung und den Inhalteiner Aussage erfasst, und die Semiotik, die Zeichenprozesse in Kultur und Natur untersucht. „Zeichen, wie zum Beispiel Bilder, Wörter, Gesten und Gerüche, vermitteln Informationen aller Art in Zeit und Raum. In Zeichenprozessen (Semiosen) werden Zeichen konstituiert, produziert, in Umlauf gebracht und rezipiert. Ohne Semiose wären Kognition, Kommunikation und kulturelle Bedeutungen nicht möglich.“[1]

M.a.W.: Ich stelle mir Jesu Rede in Gleichnissen auf zweierlei Weise vor: (1) Der Menge erzählt er die Gleichnisse, deren Bedeutung und Inhalt alle erfassen können; und er lässt es dabei bleiben – pure Semantik, ohne semiotische Ausdeutung. Vielleicht, eher sicher in der Hoffnung, dass seine Worte Frucht bringen oder das Ganze durchsäuern; das, was er sagt, entspricht völlig dem, wie er es sagt. (2) „Seinen Jüngern aber erklärte er alles, wenn er mit ihnen allein war.“ Das Erklären kann doch mit der Semantik nichts zu tun haben, die ja völlig selbsterklärend. Ich kann mir nur vorstellen, dass Jesus im Feld der Semiotik „erklärt“ hat. Da wird im Gespräch darum gegangen sein, welcher Art die Böden sind, auf denen Gottes Wort, einmal gesät, hundertfache Frucht bringt; oder welche Art von Zeichen und Zeichenhandlungen der Inhalt der Gleichnisse erahnt oder gespürt werden kann; oder – in einer geschäftigen Kirche von heute – wie die Gelassenheit all der Menschen in den Gleichnissen gelebt werden kann. Ist Dir mal aufgefallen, dass den Gleichnissen jeder Erfolgsdruck und jede Zwanghaftigkeit fehlt? Sie atmen alle eine einfache Form des Einsatzes von Menschen und dann ein Warten und Zuschauen in aller Freiheit! Diese Form des Lebens im Geiste Jesu nannte Ignatius von Loyola „contemplatio in actione“.

» Die einen suchen, die andern sehn,
die einen bleiben, die andern gehn... «
Hoffmann, Klaus (1993): Kinder erkennen sich am Gang, aus dem Album "Mit Freunden" von 2011

Den Glaubensbruder oder die Glaubensschwester erkennen

Wenn Du diese Gleichnisse vom Reich Gottes ernst nimmst, ist diese Haltung zum Leben und Haltung im Leben zuerst einmal eine Haltung aus dem Leben heraus. Genau daran, so würde Jesus vielleicht seinen Jüngern sagen, soll man uns erkennen, dass wir mehr bedenken, wer wir sind als zu bedenken, was wir tun.[2] Jesus könnte darauf hinweisen, dass wir die sind, die die Aussaat machen, den Sauerteig ansetzen usf. Und dann – nach der actione – in der contemplatio verharren, wartend, schauend, was geschieht. Diese Haltung entspricht einer großen Gelassenheit in Gott. Die Figur schlechthin in den Gleichnissen Jesu, die für diese Haltung „einsteht“, ist der Vater, der vor der Tür die Rückkehr seines „verlorenen Sohnes“ erwartet (vgl. Lk 15). Diese Form von Aktion, Kontemplation und Gelassenheit ist nicht einfach semantisch aus den Gleichnissen Jesu herauszulesen. Dafür braucht es die Semiotik Jesu und das Etablieren einer christlichen Lebenskunst in Aktion, Kontemplation und Gelassenheit in Gott. Daran sollen wir uns messen lassen, das könnte der Christen Semiose für die Welt sein.

» Doch alte Wünsche, ich seh's dir an,
gehn nicht verloren, die bleiben lang.
Kinder erkennen sich am Gang. «
Hoffmann, Klaus (1993): Kinder erkennen sich am Gang, aus dem Album "Mit Freunden" von 2011

Klaus Hoffmann: Kinder erkennen sich am Gang

Ein Schmankerl zum Schluss: Der Berliner Liedermacher Klaus Hoffmann hat 1993 ein Lied mit dem Titel „Kinder erkennen sich am Gang“ geschrieben und gesungen. Ich stelle mir einen spitzbübische Jesus vor, der seinen Jüngern genau dies sagt: „Ihr müsst an der Weise Eures Gehens (durchs) Leben als mir zugehörig erkennbar sein.“ Und ich würde mit dieser „Weise des Gehens“ das „Aktion, Kontemplation, Gelassenheit in Gott“ verbinden. Der Text dieses Liedes von Klaus Hoffmann soll diese Überlegungen ein wenig abrunden. Viel Freude damit.

Amen.

Was waren dein größten Schätze
Als du ein Kind warst, weißt du noch
War es ein Bär, aus bunten Fetzen
Der mit dir unter Tage kroch
War es die Kiste mit dem Kompass
Dein erstes Kinderbuch
Vom schnellen Fuß vom Pfeilmädchen
Der Plan zur großen Flucht
Was war dein größter Schatz
Sag nichts, ich seh’s dir an
Kinder erkennen sich am Gang

Was waren die geheimsten Pläne
Als du ein Kind warst, weißt du noch
War es ein Loch im Wald, verdeckt von Ästen
Die Höhle unterm Tannenbaum
War es ein Boden, war’s die Kammer
Ein leckes Boot am Fluss
Wo nur für dich, trotz Katzenjammer
Ein Stern vom Himmel schoss
Wo war damals dein Platz
Sag nichts, ich seh’s dir an
Kinder erkennen sich am Gang.

Die einen suchen
Die andern sehn
Die einen bleiben
Die andern gehn
Doch alte Wünsche, ich seh’s dir an
Gehn nicht verloren, die bleiben lang
Kinder erkennen sich am Gang

Was waren deine kühnsten Träume
Damals als Kind, sind sie noch da?
War es ein Haus mit alten Bäumen
Ein Garten in Amerika
War es der Sieg über den Drachen
Der Traum vom freien Flug
Bist du jetzt Feuer oder Schlacke
Sind Wünsche nicht genug
Was war dein größter Traum
Ich weiß, ich seh’s dir an
Kinder erkennen sich am Gang

Die einen suchen
Die andern sehn
Die einen bleiben
Die andern gehn
Doch alte Wünsche, ich seh’s dir an
Gehn nicht verloren, die bleiben lang
Kinder erkennen sich am Gang.

Köln, 14.06.2024
Harald Klein

[1] vgl. [online] https://www.semiotik.eu/Semiotik [14.06.2024]

[2] vgl. Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Reihe Diogenes Taschenbücher Nr. 202, S. 57, 12f, zitiert [online] https://karin-johne.de/artikel/98_3sei.html [14.06.2024]