„Für wen …“; du weißt schon!
Wieder mal so ein Evangelium zum Abrutschen aus der Bank, würdest du im Gottesdienst beim Vortrag des Evangeliums nicht aufrecht stehen. „Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen…“ ist der Klassiker dieser Abrutscher für mich; du weißt schon, das mit der dreißigfachen, der sechzigfachen und der hundertfachen Frucht; an Ostern dann das „Am gleichen Tag waren zwei von den Jüngern auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus …“; du weißt schon, das mit dem seltsamen dritten Mann, dem Abendessen am Tisch mit Brot und Wein, dem brennenden Herzen, als sie ihn erkannten. Und heute die Frage Jesu an seine Jünger, die bei Matthäus an den Ort Cäsarea Philippi gekoppelt ist: „Als Jesus in das Gebiet von Cäsarea Philippi kam, fragte er seine Jünger: Für wen …“; du weißt schon: „Für wen halten die Menschen mich?“ Und kurz darauf: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Sämann, Emmaus, Jesus fragte… – alles Abrutscher.
Keine Angst, es müsste mich der Teufel reiten, wenn ich jetzt anfinge, dir die Antworten vorzukauen, die im Laufe der Theologiegeschichte andere auf die Frage Jesu schon gegeben haben; ich denke da an solche theologischen Begriffe wie „einige für Elias, andere für Johannes den Täufer oder sonst einen der Propheten“, später dann „der Sohn Gottes“, der „Menschensohn“, der „himmlische König“ und was du so alles in den Schriften oder im Gesangbuch finden kannst. Das nicht! Aber so einen kleinen Däu – das kölsche Wort für einen Anstupser, einen Impuls, ein Überwinden von Hemmnissen, – möchte ich dir geben, dich der Frage Jesu einmal, sagen wir mal, anzunähern.
Verdrehte Rollen
Wenn du das Evangelium von heute (wahrscheinlich zum wiederholten Male) hörst oder liest, mag dir auffallen, dass Jesus den Seinen diese Frage zwar stellt, sie aber selbst nicht beantwortet, sie auch nicht korrigiert oder eingrenzt. Das ist in der Kirche, die sich als „Leib Christi in der Welt“ bezeichnet, anders. Abgesehen davon, dass die „Christologie“ – die rechte Rede von Christus und die Fehler der anderen – eine der Königsdisziplinen der Theologie ist, ist der Streit, wer denn nun „Jesus, der Christus“ in seinem Verhältnis zu Gott, zur Welt und zu den Menschen sei, zum Motor der internen Kirchenspaltungen und der externen Abgrenzung von anderen Religionen von Beginn an geworden und ist es (z.B. in der Frage der Feier der Verehrung Jesu im Gottesdienst) bis heute geblieben. Will sagen: Seitens der Kirche bist du nur Christ, wenn du dich zu dem Christus bekennst, den die Kirche verkündet – aber zum Glück gibt es da (neben den „Basics“ in Konzilsaussagen vor allem der ersten 6 Jahrhunderte) eine Unmenge an amtlich bestätigten und auch unbestätigten Gottesbildern und Deutungen von Jesus. Dem Christentum abwehrend gegenüberstehende Menschen könnten vielleicht zu Recht behaupten: „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.“
Entscheidend für den Blick auf das Evangelium ist: Jesus selbst fragt – die kirchliche Verkündigung über Jesu behautet!
„Triffst du den Buddha, töte ihn.“
Andere Religionen drehen den Spieß um. Im Zen-Buddhismus gibt es ein Koan, einen paradoxen oder rätselhaften Lehrspruch, der zur Meditation und/oder zur Erforschung der eigenen Natur dienen soll: „Triffst du den Buddha, töte ihn!“Das konzeptuelle Denken – in unserem Falle der scholastisch geprägten und wissenschaftlich ineinandergreifenden Theologie und ihr konzeptuelles Denken – soll überwunden werden durch die direkte Erfahrung der Realität. Im Zen ist gemeint: „Begegnet dir jemand, der behauptet, er sei Buddha, lasse von ihm ab.“ Oder: „Ist jemand in seiner Lehre so, dass er oder sie dich überzeugt, entzündet, so, dass du werden und denken möchtest wie er oder wie sie, lass von ihm/ihr ab. Du sollt nicht Kopie eines oder einer anderen werden, kein Abziehbild, sondern original du! Was zählt, ist deine erlebte, erfahrene Realität, nichts, was andere dir vorkauen. Finde die „Buddha-Natur“ in dir – und traue ihr.
Vor zwei Wochen war Pfingsten. Das, was im Buddhismus „Buddha-Natur“ heißt, ist allen, die Zuflucht zu Buddha, dem Lehrer, zum Dharma, der Lehre und zur Sangha, der Gemeinschaft, genommen haben, wird ihnen als innewohnend zugesprochen. Im Christentum kommt das dem Heiligen Geist nahe, der in den Herzen der Gläubigen wohnt. Er muss nicht gebildet werden durch Theologie, Lehre oder durch Menschen, die an Christi Statt zu stehen behaupten. Stattdessen kannst du dich von dem in dir innewohnenden Geist bilden lassen, auf die Weise, wie es die ersten Jünger getan haben: Im Schauen, im Hören, im inneren Bewegen der Worte und Gesten Jesu in deinem Herzen und mit deiner Vernunft.
Das ist der erste kleine Däu, den ich dir möchte ich dir möchte, um dich der Frage Jesu anzunähern. Du aber, für wen hältst du ihn? Was siehst du, hörst du, empfindet du, wenn du auf Jesus schaust, hörst, dich ihm näherst?
„Die Sehnsucht ist ein Zeugnis mangelhafter Erkenntnis“ (Thomas Mann)
Am 06. Juni gedachte die Welt der Literatur – und nicht nur sie – des 150. Geburtstages von Thomas Mann. In seiner 1912 geschriebenen Erzählung „Der Tod in Venedig“ heißt es:
„Seltsamer, heikler ist nichts als das Verhältnis von Menschen, die sich nur mit den Augen kennen, – die täglich, ja stündlich einander begegnen, beobachten und dabei den Schein gleichgültiger Fremdheit grußlos und wortlos aufrechtzuhalten durch Sittenzwang oder eigene Grille genötigt sind. Zwischen ihnen ist Unruhe und gereizte Neugier, die Hysterie eines unbefriedigten, unnatürlich unterdrückten Erkenntnis- und Austauschbedürfnisses und namentlich auch eine Art von gespannter Achtung. Denn der Mensch liebt und ehrt den Menschen, solange er ihn nicht zu beurteilen vermag, und die Sehnsucht ist ein Erzeugnis mangelhafter Erkenntnis.“[1]
Mir ist dieses Wort eine Mahnung! Nur auf den oder die andere schauen, mit ein „Bild“ von ihm oder ihr machen, sei es jemand aus meiner Nähe, sei es Jesus oder sei es der Buddha, erweckt eine Sehnsucht, die ein Erzeugnis mangelnder Erkenntnis ist: So wäre ich gern, den oder die hätte ich gerne, z.B. als Partner oder Partnerin; so werde ich nie werden,ihr oder ihm werde ich nie genügen.
Für wen hälts du Jesus? Für wen hältst du mich oder jemanden anders? Für wen hältst du dich? Der Augenschein, sich nur mit den Augen kennen, ist heikel und seltsam, führt ins Nichts, mindestens mal nicht in die Wahrheit. Thomas Mann mahnt das Erkenntnis- und Austauschbedürftnis und die Achtung voreinander an. Dem Sehen folgt das Erkennen, der Austausch, und zwar in Achtung voreinander, sagt Tomas Mann.
Ja, und das ist der zweite kleine Däu, den ich dir mitgeben möchte, um dich dann auch Frage anzunähern. Du aber, für wen hältst du mich, oder dich, oder wen auch immer? Mit den Augen mag es beginnen. Aber dann vergiss das gegenseitige Erkenntnis- und Austauschbedürftnis und die Achtung voreinander nicht. Rede, oder lass uns reden. Sonst geht es schief! Würde glaube ich auch Jesus sagen, zu den Seinen im Evangelium ,zu dir, zu mir.
So viel für heute, und für diese Woche.
Köln, 17.06.2025
Harald Klein
[1] Mann, Thomas (1974): Der Tod in Venedig, in: GW Bd. VIII, 2. Aufl., Frankfurt/Main, 444-524, hier: 496f.