12. Sonntag im Jahreskreis – Von der Angst zum Glauben

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Einsteigen in den Text heißt Einsteigen ins Boot

Diejenigen von Ihnen, die noch keine Ignatianischen Exerzitien gemacht haben, haben sicher Bilder vor Augen, was da geschieht; oder Sie tragen Gefühlslagen mit sich herum, wie sich das „anfühlen“ mag; und nur Sie wissen, ob sich Ihr Einlassen auf einen solchen Kurs – meist acht Tage mit zusätzlichem An- und Abreisetag – eher Neugierde, eher Vorfreude oder eher ein leichtes Grummeln und Unwohlsein in Ihnen hervorruft.

An einem werden Sie in Ignatianischen Exerzitien kaum vorbeikommen, an der für Ignatius typischen Weise der Schriftbetrachtung.

Ignatius empfiehlt, mit allen Sinnen einen Text zu lesen, besser, ihn zu erleben. Wenn das heutige Evangelium den Sturm auf dem See vorgibt, dann sehen Sie das kleine Boot mit Jesus und seinen Jüngern, vom Sturm schwankend auf den Wellen, die ins Boot schwappen, sodass es sich mit Wasser zu füllen beginnt. Sie sehen die Jünger in ihrer Not, Sie hören die Angstrufe der Jünger, Sie spüren die Gischt in Ihrem Gesicht, spüren die nassen Füße, riechenden Salzgeruch des Wassers und schmecken ihn auf Ihren Lippen. Wie werden Sie wohl auf den schlafenden Jesus schauen? Was empfinden Sie, wenn Jesus dem Sturm gebietet, zu schweigen und still zu sein. Und wie reagieren Ihre Sinne auf die dann eintretende Stille? – Nicht nur, dass Sie in den Text einsteigen, nein, Sie steigen vielmehr mit den Jüngern ins Boot und werden ein „Gleichzeitiger“, überwinden den „garstigen Graben“ (Lessing), der zwischen dem, was damals geschah und dem Heute mit Ihrer persönlichen Gegenwart liegt. In der Gebetszeit der Exerzitien bleiben Sie da, bleiben Sie im Boot, halten die Angst aus, nicht nur die des Evangeliums, sondern auch und vor allem die, die sich Ihnen zeigt! – Der Vollständigkeit halber: nach der festgesetzten Betrachtungszeit würde dann eine Zeit für Reflexion und Notizen folgen, ein Gespräch mit Jesus im Reden und vor allem im Hören beendet die Gebetszeit. Ignatius rät zum Ende hin: „Und ein Vaterunser beten.“

» Jedenfalls gibt es kein einziges Übel auf der Welt,
das sich nicht auf Angst zurückführen ließe;
kein einziges. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 67.

Ein Wort zur Angst

Die Angst der Jünger ist gut zu fassen: „Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es sich mit Wasser zu füllen begann.“ Es ist nicht verkehrt, hier von einer Angst zu kentern, einer Angst, unterzugehen oder einer Angst, Schiffbruch zu erleiden zu reden.

Kennen Sie das? Vergessen Sie nicht: Sie sitzen mit den anderen Jüngern im gleichen Boot!

Das wären Impulse, Bilder, Empfindungen, die dieses Evangelium in einer Gebetszeit wachrufen könnte: Welches oder welche der Boote, in denen Sie auf dem „Wasser des Lebens“ unterwegs sind, läuft Gefahr zu kentern, und warum? Was löst diese offensichtliche Gefahr und die damit verbundene Angst bei Ihnen aus? Welche Handlungsalternativen bieten die, die mit Ihnen im Boot sitzen? Mit welchen Folgen müssen Sie realistisch rechnen, wenn das Boot kentert? Was wird dann wohl aus Ihnen?

» Sie sind derjenige, der sich ändern muss, der die Arznei zu schlucken hat. Doch Sie bestehen darauf: ‚Ich fühle mich gut, weil die Welt in Ordnung ist.‘ Irrtum! Die Welt ist in Ordnung, weil ich mich gut fühle. Das ist die Botschaft, die uns alle Mystiker verkünden. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 89.

Ein Wort zum Glauben

In diese Situation hinein kommt der „aufgeweckte“ – Jesus und stellt zwei Fragen: „Warum habt Ihr solche Angst? Habt Ihr noch keinen Glauben?“

Jetzt gilt es, die Reihenfolge der Erzählung zu beachten. Die Angst der Jünger – Jesus wird geweckt – Jesus droht dem Sturm – das Ergebnis: der Wind legt sich, völlige Stille tritt ein – und dann die Frage an die Jünger! Die Jünger erfahren die Wirkmächtigkeit Jesu, seines Geistes, seines Vertrauens. Schauen Sie sich die Jünger im Boot, in der Stille, an, wie sie dastehen, und schauen Sie, wie Sie dastehen. Seltsam, dass die Jünger große Furcht ergreift, und sie sich fragen: „Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?“ Nochmal die Frage an Sie: Wie stehen Sie da, wenn aus der Angst des Untergangs, des Kenterns, des Schiffbruchs auf einmal völlige (Wind-) Stille wird? Und was können Sie dafür tun, dass es so wird? Vor allem: Haben Sie die Wirkmächtigkeit Jesu schon einmal an Ihrem eigenen Leibe erfahren? Oder sind das bloß „fromme Erzählungen“?

» Möchten Sie glücklich sein? Ununterbrochenes Glück hat keine Ursache. Wahres Glück hat keine Ursache. Sie können mich nicht glücklich machen. Sie sind nicht mein Glück. Wenn Sie jemanden, der erwacht ist, fragen: ‚Warum sind Sie glücklich?‘, wird er antworten: ‚Warum nicht?‘ «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 83f.

Ein Wort gegen die Angst

Für den indischen Jesuiten Anthony de Mello (1931-1987) war es “der springende Punkt”[1], aufzuwachen und glücklich zu sein. Er beschreibt einen Weg der Bewusstheit, der an der Erkenntnis ansetzt, dass ich „schlafe“, dass ich gar nicht „wach werden“ will. Das „Ich“ will festhalten an dem, was „mich“ scheinbar ausmacht. Aber: Die Erfahrungen des Schiffbruchs gehören zum Leben, die des Sturmes und des Gegenwindes ebenso. De Mello ist davon überzeugt, dass das Glück eines Menschen nicht am Boot, an dessen Ladung oder dessen Passgieren hängt. Es geht um einen Zustand, der losgelöst ist von dem, was bzw. von denen, die irgendwie zu Ihnen gehören.

Angst haben – um etwas, um Dich, um mich. Glauben kann heißen, dieser Angst die Kraft zu nehmen, im Vertrauen darauf, dass es immer ein Danach, ein Darauf gibt, vielleicht völlig anders, als ich es denke, aber so, dass ich mich nicht am Gegenwärtigen, am Erreichten, an den Schubladen, Etiketten und Aufklebern festmache, die beanspruchen zu sagen, wer, wie und was ich sei.

» Meister Eckardt sagt: ‚Nicht durch deine Taten wirst du gerettet werden‘ (oder aufwachen, nennen Sie es, wie Sie wollen), sondern nur durch dein Sein. Nicht nach dem, was du tust, sondern nach dem, was du bist, wirst du gerichtet werden. «
de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, 2. Aufl., Freiburg, 93f.

Ein Wort gegen Religion

Es hat P. Anthony de Mello viel Ärger und Auseinandersetzung gekostet, bis hin zum Ringen mit der Glaubenskongregation in Rom, dass er sich so sehr für das „Wachwerden“ als dem Ziel der Religion und vor allem der Spiritualität eingesetzt hat. Seine Position, gerade auch Andersdenkenden oder andren Religionen gegenüber beschreibt er wie folgt:

„Wenn ich zu Hindus spreche, sage ich zu ihnen: ‚Ihre Priester werden nicht erfreut sein, das zu hören, aber Gott wäre, wie Jesus verkündete, viel glücklicher, wenn Sie sich ändern würden, statt zu beten und zu feiern. Ihm würde Ihre Liebe viel mehr gefallen als Ihre Anbetung.‘ Und wenn ich zu Moslems spreche, sage ich: ‚Ihr Ayatollah und Ihre Mullahs werden nicht gerade erfreut sein, das zu hören, aber Gott würde sich viel mehr darüber freuen, wenn Sie sich zu Menschen wandeln würden, die Liebe üben, als wenn sie sagen: Herr, Herr.‘ Es ist unendlich viel wichtiger, dass Sie wach werden. Das ist Spiritualität, das ist alles. Wenn Sie das haben, haben Sie Gott. Dann feiern Sie Gottesdienst ‚im Geist und in der Wahrheit‘. Wenn Sie Liebe werden, wenn Sie in Liebe umgewandelt werden.“[2]

Es ist nicht mehr die verfasste und gefasste Religion, die in Dogmatiken vorgelegt und im Zusammenhang dargestellt oder in Katechismen in (eher lebensfernen) Handlungsanweisungen angetragen wird. Es ist nicht mehr die über Jahrhunderte hinweg gewachsene Frömmigkeit in ihren vielfältigen Formen von Gottesdiensten, Andachten, Gebeten und vor allem Riten als Zeichen der Zugehörigkeit. Es ist letztlich eine tiefe Spiritualität, eine Suche nach einem Geist, der die Augen (und die anderen Sinne) öffnet, der Lebensweisen und Lebensformen gegen die Angst, unterzugehen, anbietet und die zeigt, dass es einen tiefen Unterschied zwischen dem „Ich“, das ich bin, und dem „Mich“, in dem ich mich darstelle und in dem das „Ich“ sowohl begreifbar wie angreifbar ist, gibt. Das „Mich“ kann untergehen, ohne dass das „Ich“ dabei Schaden nimmt.

Wer mit Jesus im Boot ist, der nimmt keinen Schaden, zumindest nicht am „Ich“, und der hat keine Angst, sein „Mich“ über Bord zu werfen“ und „untergehen zu lassen“ – wer weiß, was danach kommt!

Amen.

Köln 18.06.2021
Harald Klein

[1] Vgl. de Mello, Anthony (1992): Der springende Punkt. Wach werden und glücklich sein, Freiburg.

[2] a.a.O., 70.