„Gott hat den Tod nicht gemacht…“
Ein starker Satz, mit dem die alttestamentliche Lesung am heutigen Sonntag den Reigen des Wortes Gottes eröffnet: „Gott hat den Tod nicht gemacht und hat keine Freude am Untergang des Lebens. Zum Dasein hat er alles geschaffen, und heilbringend sind die Geschöpfe der Welt“ (Weish 1,13f).
Gerne würde ich es glauben, aber die eigene Praxis lehrt mich anderes. Ich schaue auf meine Routinen und Gewohnheiten, auf meine Weise der Reaktion auf die Aktionen der anderen, und kritisch stellt sich mir die Frage, ob ich da mit Gott an einem Strange ziehe. Wie mag es bei Dir aussehen? Wie sieht Dein, wie mein Einsatz für das „Dasein“ aus, und wie „heilbringend“ wirkt sich Dein, wirkt sich mein Denken, Fühlen, Handeln als Geschöpfe dieser Welt aus?
Weiter unten in der Lesung heißt es dann, Gott habe den Menschen – habe Dich, habe mich – zur Unvergänglichkeit erschaffen und ihn – Dich, mich – zum Bild seines eigenen Wesens gemacht. Das lässt erst einmal hoffen, lässt aufatmen.
Ich ahne: Leiden drückt! Es braucht zuerst, es braucht „nur“ meinen „Auf-Bruch“, ein „Mich-aufmachen“ und ein „Annehmen“ dieser Sätze, die dann Leben – Deines, meines – verwandeln können.
Der unhörbare, lautlose Gesang der Armut (I) – die blutflüssige Frau
Zwei, vielleicht sogar drei Menschen, die in dieser Zerreißprobe zwischen Verharren im Alten oder Aufbruch zu bzw. Annahme von etwas Neuem stehen, erzählt das Evangelium. Sie singen das lautlose Lied der Armut, von dem Eugen Drewermann erzählt: „Es geht durch diese Welt der unhörbare, lautlose Gesang der Armut, gefügt aus den ängstlich und schamvoll verborgenen Gebären der Bitte, aus den vorsichtig verkleideten und versteckten Äußerungen der Not und den verstohlenen Blicken auf das unerreichbar erscheinende Glück der anderen. Gerade die Menschen, denen es am ärmsten geht, schämen sich oft am meisten, weil jedes Bittgesuch um Hilfe wie eine Schande, wie ein Sich-bloß-Stellen, wie ein schamloser Offenbarungseid empfunden wird.“[1]
Das erste „Lied der Armut“ handelt von der blutflüssigen Frau, die den Ärzten, vielleicht auch den Besserwissern und Scharlatanen, ihr ganzes Vermögen gab, die aber keine Heilung fand und seit zwölf Jahren als „unrein“ galt.
Da ist sie, die Alternative: entweder das Leben als unaufhaltsam fortstrebenden Verlust zu empfinden, als ein Sichverschleißen ohne jeglichen Sinn, und so immer ärmer, immer leerer, immer einsamer zu werden;[2] oder nach anderen, neuen, außerhalb des bisher gelebten Lebens sich zeigenden Möglichkeiten von Heilung zu suchen. Sie hat in ihrem Leidensdruck von Jesus gehört, sie „bricht auf“, drängt sich in der Menge an ihn heran, ihr Leiden drückt sie zu ihm hin, sie will nur sein Gewand von hinten nur berühren, in einer neuen Gewissheit: „Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, bin ich geheilt“ (Mk 5,28)
Das soll für hier genügen. Die blutflüssige Frau steht für Menschen im Leidensdruck, die sich vom Leiden selbst herausdrücken lassen aus den aufgebauten Fassaden, Normen, Lebenswelten und die versuchen, das Heil anderswo zu finden – die allen Mut zusammennehmen, um auf- und auszubrechen. „Meine Tochter, Dein Glaube hat Dich gerettet, Geh in Frieden! Du sollst von Deinem Leiden geheilt sein“, sagt Jesus. Sie hätte das nicht gehört, sie hätte die Heilung nicht erlebt, sie wäre eingemauert im Gewohnten, im Immer-ärmer, Immer-leerer, Immer-einsamer geblieben, hätte der Leidensdruck sie nicht aufbrechen lassen.
Der unhörbare, lautlose Gesang der Armut (II) – die Tochter des Jairus
Ob dann der Synagogenvorsteher Jairus und seine totgeglaubte Tochter als zwei Menschen oder nur als ein Verhältnisin der Zerreißprobe von Verharren im Alten oder Aufbruch zu und Annahme von etwas Neuem stehen, überlasse ich Dir. Es geht um die Tochter des Synagogenvorstehers, und unweigerlich habe ich den Film „Das Weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ vor Augen. Martin, den Sohn des evangelischen Pastors, wird mit seinen Geschwistern und den anderen Kindern des Dorfes in der Nähe von Greifswald in ein Leben hineingepresst, das aus Normen, Anstand, Befehlen und Gehorsam geprägt ist. Der Film spielt unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkrieges. Die Parallele zum Evangelium sehe ich der Verschmelzung der Rollen des Synagogenvorstehers und des evangelischen Pastors einerseits, der namenlosen Tochter und dem Sohn Martin andererseits. Das Weiße Band bekommt Martin um die Schulter gebunden, es soll ihn und die anderen Kinder an die stets gefährdete oder bereits verlorene Unschuld erinnern, es ist aber letztlich ein Symbol für Schuld und Sünde, eine weithin sichtbare Demütigung des Vater an den Sohn. Da ist jemand aus dem Kodex (des Vaters, des Patriarchen) gefallen, der Geltung beansprucht – und das fällt auf ihn, den Vater, das fällt auf seine Kirche zurück.
Für Martin, den Sohn des evangelischen Pastors, mag dasselbe gelten wie für die Tochter des Jairus: „Nur wenn sie ihrem Vater stirbt, wird des Jairus‘ Tochter leben.“[3] Es ist er Leidensdruck der Tochter, der sie in den Tod drückt; und es ist der Leidensdruck Jesu, der sich dem Haus des Jairus nähert – wohlgemerkt: nicht das Leiden des Vaters, des Patriarchen führt ihn zu Jesus; Jesus reagiert auf das Schreien und Weinen der Menschen um das Haus herum. Nur der Vater und die Mutter und die, die mit ihm waren, gehen ans „Totenbett“. Jesus fasst das Kind an der Hand, richtet es auf und sagt zu ihm: Talita kum!, das heißt übersetzt: „Mädchen, ich sage Dir, steh auf!“
Da ist sie ein zweites Mal, die Alternative: entweder vor dem Leid eines vorgezeichneten Lebens als Tochter des Synagogenvorstehers in die Knie zu gehen, das eigene sich gerade entwickelnde Leben zu verschlafen und aufgeben, sich tot stellen und das Leben wie ein Toter an sich vorüberziehen zu lassen, oder an der Hand eines anderen, der das Aufstehen als Möglichkeit zusagt, sich auf- und dann sich auszurichten. Ob der Leidensdruck des Mädchens groß genug ist, sich aus dem vorgezeichneten Leben zu „verdrücken“, ob sie wohl „ausdrücklich“ ihr eigenes Leben anzustreben versucht, ob der Vater den „Druck“ seiner Rolle, den er auf die Tochter abgeschoben hat, einzusehen vermag – wer weiß? Allemal gibt es eine Art Druck, einen Leidensdruck, der ins Tun ruft, der Veränderung initiiert oder zumindest zu initiieren vermag.
„Dein Glaube hat Dich gerettet!“ – Welcher Glaube?
Auf einmal klingt das erste Wort dieses Sonntags ganz anders. „Gott hat den Tod nicht gemacht“ (Weish 1,13). Eines scheint sicher: Strukturen, in Gruppen, zusammen mit Menschen, die den Tod dem Leben vorziehen, die ihn verherrlichen als eine Möglichkeit, Gott besser zu gefallen und ihm zu dienen, zu leben, bleiben zu wollen, widerspricht dem, was uns die Lesung und das Evangelium vor Augen stellt.
„Dein Glaube hat Dich gerettet“, sagt Jesus der blutflüssigen Frau. Bei der Tochter des Jairus war es der Glaube des Vaters, der dem Mädchen jede Lebenschance genommen, ihm die Luft zum Atmen geraubt hat. Von daher ist Achtung geboten, wenn es um „Glauben“ geht. Ein gutes Kriterium der Unterscheidung bietet Eugen Drewermann: „Gerade das möchte Gott, und das versteht er unter ‚Glauben‘: die Angst und die Scheu zu überwinden, die bis zur Krankheit das Leben verunstalten und zerstören kann, und als gewiss zu setzen, dass Gott unser Leben will, selbst wenn der Wortlaut des Gesetzes diesem Willen oft zu widersprechen scheint. – Geh also hin, dein Glaube hat dich geheilt.“
Das wäre es für den heutigen Sonntag: Das Hinspüren auf den Leidensdruck – das Nachspüren, wohin das Leid drückt– und dann (statt zu Verharren) das Aufbrechen, das Gehen, denn: Dein Glaube hat Dich geheilt.
Amen.
Köln, 27.06.2024
Harald Klein
[1] Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 367.
[2] Vgl. Drewermann, Eugen (5. Aufl. 1989): Das Markusevangelium. 1. Teil. Bilder von Erlösung, Freiburg, 368.
[3] a.a.O., 373.