14. Sonntag im Jahreskreis – „Früher war ich älter“ (Horst Evers)

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Die Parabel von den blinden Männern und dem Elefanten

Sie gehört zu den Geschichten, die im Religionsunterricht, in der Katechese oder in der Predigt schon beinahe einen Märtyrer-Status haben, so wie etwa der Barmherzige Samariter oder der kleine Zachäus, der auf dem Baum hockt – oder vor allem das Herz, denn nur mit dem Herzen hört man bekanntlicherweise gut, Sie wissen es bestimmt. Hier und jetzt meine ich die Parabel von den sechs blinden Männern, die „begreifen“ wollen, um was für ein Tier es sich bei einem Elefanten handele. Jeder ertastet etwas anderes am Elefanten und malt sich vom dem, was er „begriffen“ hat, das Gesamtbild vom Elefanten aus. Für den, der den Rüssel des Tieres ertastet, erscheint der Elefant wie eine Schlange; der, der den Schwanz des Tieres ertastet, meint, der Elefant sei wie ein Seil; der, der den Stoßzahn fühlt, ist an einen Speer erinnert; wie ein Luftfächer erscheint er dem, der das Ohr ertastet; und wie ein Baum erscheint er dem, der ein Bein ertastet.

» Audiatur et altera pars -
man muss auch den anderen Teil hören. «
Rechtsgrundsatz im antiken Griechenland und im antiken Rom

Wer hat Recht, wer hat Unrecht?

Die Frage ist: Wer hat Recht, und wer hat Unrecht? Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären mit den sechs Männern zusammen und würden ihnen die Frage nach der Beschaffenheit des Elefanten stellen. Das könnte ähnlich sein wie die Frage nach der Beschaffenheit des Auftrags von Kirche, hier und heute, oder als Weltkirche. Das könnte ähnlich sein wie die Frage nach der „Beschaffenheit“ eines Menschen, und da sind wir beim heutigen Evangelium, wo die Menschen aus der Heimatstadt Jesu sich fragen, woher er das alles hat, und was das für Machttaten seien, die durch ihn geschehen. Oder kurz: wer das „eigentlich“ (i.S.v. wesentlich) sei. Das ist doch der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon. Und sie nehmen Anstoß an ihm (vgl. Mk 6,1a-6).

» Ich ziehe mich jetzt ganz in meine eigene Welt zurück, in meine eigene Filterblase, wie man mittlerweile auch sagt, wo ich dann auch sage: ‚Nee, komm, ich hör jetzt nur noch das, was ich hören will beziehungsweise ich denk jetzt nur noch das, was ich auch verstehe, so! – und das ist eben dann auf Dauer auch nicht sehr viel. «
Evers, Horst (2019): Früher war ich älter [online]https://www.youtube.com/watch?v=DQffEXw0obI [03.07.2021], 3:58-4:17

Leben in der Filterblase

Wenn der Geist klein ist, kann die Welt nicht groß sein – und wenn ich nur das Bein, den Rüssel, das Ohr usw. ertaste oder sehe, fehlt mir das Bild vom Ganzen. So, wie meine Welt eingerichtet ist, sehe ich aus den Fenstern meiner Welt heraus und erkenne ich das, was ist – erkenne nur das, was ich erkennen kann, weil ich es eben so und nicht anderskenne. Wenn der Berliner Comedian Horst Evers eines seiner Programme mit „Früher war ich älter“ überschreibt, dann deute ich diesen Titel in diesem Zusammenhang als die kindliche Neugier, die ganze Welt, möglichst alles, sehen und verstehen zu wollen – aber so, dass sie mit dem Alter verkümmert.

Die Rolle der Bildung könnte sein, diese Neugier wachzuhalten. Mit Blick auf so manchen Diskurs, der in Politik und/oder Kirche geführt wird, wäre es die Aufgabe der Bildung, den Blick weit zu machen, kritisch zu bleiben. Dokumentationen in manchen Kanälen sind nur auf den ersten Blick einsichtig – oft sind sie eben nur “ein-sichtig“, man könnte fast sagen „mein-sichtig“: Da gibt einer an, den Elefanten zu zeigen, und zeigt doch nur den Rüssel oder das Bein. Es ist ein Zeichen von mangelnder Bildung und schwacher persönlicher Haltung, nur bei dem „einen“, dem Rüssel, dem Bein zu bleiben, und sich dem Lernen zu verweigern, dass es vielleicht noch mehr gäbe – schließlich bedroht das ja des Ängstlichen Welt und Weltsicht.

Wie froh wird der, der nur den Rüssel des Elefanten kennt, sein, wenn seine Sichtweise von einem anderen Blinden mit-geteilt wird, zeigt diese Mit-Teilung doch, was er „immer schon“ gewusst hat. „Siehst Du, ich habe es gewusst, es steht doch in der Zeitung“, sagt der eine in seiner Enge. „Und muss es deswegen stimmen?“, fragt der andere, fragt der geistig Weite! „Ich höre nur noch, was ich hören will, denk nur noch das, was ich denken will, so! – und das ist eben dann auf Dauer auch nicht sehr viel“, schreibt Horst Evers

» Glaube und Vernunft (Fides et ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt.
Das Streben, die Wahrheit zu erkennen und letztlich ihn selbst zu erkennen,
hat Gott dem Menschen ins Herz gesenkt,
damit er dadurch, daß er Ihn erkennt und liebt,
auch zur vollen Wahrheit über sich selbst gelangen könne. «
Papst Johannes Paul II. (1998): Enzyklika 'Fides et ratio', Segensgruß am Beginn des Textes

Das Göttliche ertasten

„‚Nee, komm, ich hör jetzt nur noch das, was ich hören will beziehungsweise ich denk jetzt nur noch das, was ich auch verstehe, so!  – und das ist eben dann auf Dauer auch nicht sehr viel“ – Da gibt es den Geistlichen Missbrauch[1] in der Weise, Menschen spirituell zu manipulieren oder spirituelle Gewalt auszuüben, durch Unterdrückung und Ausnutzung von Menschen in ihrer Suche nach geistlicher Orientierung, in den vielen Versuchen, als „Blinder“ das Göttliche zu ertasten. Die Lösung kann niemals nur die eine Sichtweise sein, das eine, das ich gehört oder erlebt habe. Das Bild Gottes würde so verkürzt nachgezeichnet wie das Bild des Elefanten. Auch eine Kirche – wie auch jeder und jede andere – muss aufhören zu sagen, sie wisse, wie Gott sei oder wer Gott sei.

Erkenntnistheoretisch ist es geboten, nicht beim eigenen Bild von Gott, vom anderen, von mir stehen zu bleiben, sondern um der Wahrheit willen die anderen zu hören, von ihnen zu lernen und zu wählen, was mit Gründen der Vernunft schlüssig erscheint. Gott und Vernunft schließen sich nicht aus!

Ethisch ist es geboten, den anderen in ihrem Suchen und Beschreiben Gottes das gleiche Maß von Wahrheit zuzuschreiben, dass ich für meine Suche, für mein Beschreiben erwarte.

M.a.W.: Der eine ertastet einen Rüssel, der andere ein Ohr, ich einen Stoßzahn. Gott ist nicht nur Stoßzahn – ich lerne den Rüssel und das Ohr von den Erfahrungen, vom Ertasten der anderen. Und ich lerne, ihnen zu glauben in dem Maß, in dem ich mir ihren Glauben an meine Erfahrungen erbitte.

Natürlich ist der, den die Männer in der Synagoge hören, der Sohn der Maria, der Bruder des Jakobus, des Joses, des Judas und des Simon. Aber er ist mehr, sehr viel mehr. Wenn Sie in der Synagoge stünden: Natürlich sind Sie Vater oder Mutter, leben Sie allein, sind Sie eher weitsichtig oder eher eng, sind Sie alt oder jung, aber Sie sind mehr, sehr viel mehr. Das Göttliche in Ihnen ertasten Sie niemals nur durch den einen Teil, ohne das der andere Teil, ohne dass die anderen Teile mit beteiligt wären – und all diese Teile in Ihnen nehmen anderes vom Göttlichen wahr. Und heute: Keiner von uns hat „den Elefanten“ je gesehen, wir tasten uns wie die blinden Männer an ihn heran!

» Häufig im Krieg der Theologen
bekämpfen sich Koryphäen.
was der Eine als Wahrheit hat erkannt,
die Andren als Lüge schmähen,
und plappern über 'nen Elefant,
den keiner hat je gesehen! «
aus: Saxe, John Godfrey (1816-1887): The blind men and the elephant.

Wie arm ist eine Kirche, eine Verkündigung, die nur in der Lehre, im Katechismus, im Lehren und Befolgen von Regeln sich darstellt; wie arm die Kirche, die (mehr als den, um den es geht) sich selbst in Liturgien feiert; wie arm aber auch die, die nur auf Reformen pocht und das geschichtlich Gewachsene hinter sich lassen möchte. Jede und jeder sieht, ertastet etwas anderes, erkenntnistheoretisch braucht es ein Zusammenführen der Teile, um dem Elefanten, um der Kirche, um Jesus Christus näher zu kommen. Und ethisch angebracht ist es, über das, was ich als „übereinstimmend“ mit meiner kleinen Welt lese, höre, annehme, hinauszugehen, nachzufragen, kritisch zu sein, meine Bildung einzusetzen – denn wenn ich nur noch das denke, was ich denken will, dann ist das eben auf die Dauer nicht sehr viel. Hier kann der Comedian uns ein guter Lehrer sein. Danke, Horst Evers.

Amen

P.S.: Hier finden Sie eine sehr schöne Deutung der Parabel von den blinden Männern und dem Elefanten.

Köln 03.07.2021
Harald Klein

[1] Vgl. [online] https://bistum-osnabrueck.de/wp-content/uploads/2017/01/Grundsatzpapier-geistlicher-Missbrauch-102020.pdf [03.07.2021]