14. Sonntag im Jahreskreis: Prozessorientierte Nachfolge

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
  • –   
  • –   

Der Weg ist das Ziel?!

Nur wenige Worte höre ich so ambivalent wie „Naja, der Weg ist das Ziel!“ Die Ambivalenz liegt für mich darin, dass diese Haltung das eigentliche Ziel aus dem Blick zu verlieren scheint, schon verloren hat und schon jetzt eine Entschuldigung sucht. Da scheint jede Ziel-Orientierung dahin! Und das klingt dann für mich wie vertane Zeit, vertane Kraft, vertane Chancen und vertane Erfolge.

Gleichzeitig weiß ich, wie unsinnig dieses Denken und Empfinden ist. Mit ein klein wenig Achtsamkeit wird mir klar, dass das „Jetzt“ das Ziel ist, in dem ich mich auf etwas hinbewege; dass die, die jetzt da sind, genau die „Richtigen“ sind, weil alle Nicht-da-Seienden vielleicht vermisst werden können und dürfen, aber sie sind eben nicht da. Das wirkliche Ziel ist die real existierende Gegenwart, die ich gestalten und formen bzw. die die mich gestalten und formen kann. Dieses mich gestalten/formen bzw. dieses gestaltet/geformt werden nenne ich gerne „Schöpfung“ nennen, oder auch „Berufung“. Und da liegt es auf der Hand, dass dieser Weg von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag das bzw. mein Ziel ist.

In dieser Hinsicht, so die These, ist Prozess- und Zielorientierung in der Nachfolge nicht gegensätzlich. Im Gegenteil: Prozess- und Zielorientierung fallen in eins.

Mit den Texten, die dieser Sonntag als Lesung und Evangelium anbietet, würde ich Dir gerne erläutern, was ich damit meine.

» Gott gleicht sich einem Brunn;
er fließt ganz mildiglich
heraus in sein Geschöpf
und bleibet doch in sich. «
Angelus Silesius (1624-1677): Gott ist ein Brunn (aus: ders: Epigramme)

Ezechiels dreifacher Genitiv

In der Berufungsgeschichte des Ezechiel, die atl. Lesung von heute, wird eine Art Prozessorientierung in nur einem einzigen Vers deutlich, der ganz zu Beginn steht. „In jenen Tagen schaute ich das Aussehen der Gestalt der Herrlichkeit des Herrn“ (Ez 1,28c). Ezechiel hat weder den Herrn, noch dessen Herrlichkeit, erst recht nicht dessen Gestalt, sondern nur das Aussehen, ein Schemen, einen noch im Nebel verborgenen „Herrn“ gesehen. Drei Genitive baut er ein, und um – jetzt zielorientiert – zur Schau Gottes zu gelangen und ihm ein nahes Gegenüber zu sein, muss er – prozessorientiert– mindestens das Aussehen und die Gestalt, vielleicht auch die Herrlichkeit des Herrn hinter sich lassen. Dieses „hinter sich lassen“ ist der Weg, den zu gehen zumindest jetzt sein Ziel ist. Sonst wird er nicht ankommen bei Gott!

» Mensch, werde wesentlich;
denn wenn die Welt vergeht,
so fällt der Zufall weg,
das Wesen, das besteht. «
Angelus Silesius (1624-1677): Zufall und Wesen (aus: ders: Epigramme)

„Stell Dich auf Deine Füße, Menschensohn“

Weiter erzählt Ezechiel: „Ich hörte die Stimme eines Redenden. Er sagte zu mir: Menschensohn, stell Dich auf Deine Füße; ich will mit Dir reden. Da kam der Geist in mich, als er zu mir redete, und er stellte mich auf meine Füße. Und ich hörte den, der mit mir redete“ (Ez 2,1-2a).

Der Weg ist – und bleibt das Ziel. Ezechiel hört nicht Gott, oder einen seiner Propheten oder Lehrer oder Könige. Er hört die Stimme eines Redenden. Allerdings so, dass diese Stimme, dass dieser unbestimmte Redende einen Prozess in Gang setzt: „Stell dich auf Deine Füße!“ Ich habe sofort die Literatur im Blick, die Stimme der Autorinnen und Autoren, die mir wirklich etwas zu sagen haben; die Stimme von Freundinnen und Freunden, von Menschen, die sehr freundschaftlich, wenn nicht sogar partnerschaftlich in mein Leben gehören: „Stell Dich auf Deine Füße!“ Da ist von einem Ziel noch kein Wort gefallen. Mir scheint, jeglicher Anfang meiner Geschichte mit Gott geschieht durch den Impuls eines oder einer Redenden, der oder die mich eben durch diesen Impuls aufrichtet, nur aufrichtet, das Ausrichten, das Suchen nach der Richtung kommt noch!

» Die Ros ist ohn warum;
sie blühet, weil sie blühet,
Sie acht nicht ihrer selbst,
fragt nicht, ob man sie siehet. «
Angelus Silesius (1624-1677): Ohne warum (aus: ders: Epigramme)

„Ich sende Dich…“

Jetzt redet der Geist, der den Ezechiel aufgerichtet und auf die Füße gestellt hat, mit ihm: „Er sagte zu mir: Menschensohn, ich sende Dich zu den Söhnen Israels, zu abtrünnigen Völkern, die von mir abtrünnig wurden. Sie und ihre Väter sind von mir abgefallen, bis zum heutigen Tag. Es sind Söhne mit trotzigem Gesicht und hartem Herzen. Zu ihnen sende ich Dich“ (Ez 2,2b-4). Wenn Du dann im Propheten Ezechiel blätterst, wirst Du sehen, dass der Prophet noch ganze 38 Kapitel braucht, bis der Tempel in Jerusalem wieder steht. In diesen 38 Kapiteln – ein einziger prozessorientierter Weg, zu dem es auch gehört, das Ziel zu finden, und den Weg, sich diesem Ziel eher prozess- denn zielorientiert anzunähern.

»Blüh auf, gefrorner Christ,
der Mai ist vor der Tür,
du bleibest ewig tot,
blühst du nicht jetzt und hier. «
Angelus Silesius (1624-1677): Jetzt musst du blühen (aus: ders: Epigramme)

Und jetzt das Evangelium…

Könntest Du eine Antwort geben, was das Ziel Jesu gewesen sei? Spiele ein wenig in Deiner Fantasie. Ich wähle: Jesus will die aktuelle Wirklichkeit des Reiches Gottes unter den Menschen aufzeigen und dafür eintreten. Gottes Reich ist gegenwärtig und verändert die Welt – in den (Schöpfungs-) Taten, die Menschen vollbringen oder die an ihnen vollbracht werden.

Und dann, jetzt, heute: Jesus in seiner Heimatstadt. Er lehrt in der Synagoge, und die Menschen in Nazareth staunen – woher mag er das alles haben, der Sohn des Zimmermanns? Was ist das für eine Weisheit, was sind das für Machttaten, die durch ihn geschehen?

Das Erleben für zielorientierte Menschen: „Und sie nahmen Anstoß an ihm.“ Soll er doch erst einmal das Handwerk seines Vaters ordentlich lernen. Soll er doch das Leben teilen, das wir hier leben, soll er doch einer von uns sein und bleiben, und nichts anderes. Das ist das Ziel: sich einfügen wie ein Puzzleteil in das Bild, das auf dem Karton der Tradition vorgegeben ist, und alles dafür tun, dass dieses Teil seinen Platz findet. Es wird so lange an dem „Teil“ herumgeschnitten, gerissen, verändert, gestaucht, bis das Teil passt – Du erinnerst Dich an die Tochter des Jairus oder an die blutflüssige Frau vom letzten Sonntag?! Das ist die Zielorientierung der traditionellen Religion: Du musst passgenau leben und passgenau sein. Das Bild auf der Schachtel des Puzzles muss passgenau zusammengesetzt und weitergegeben werden.

Jesus, erzählt der Evangelist Markus, konnte in seiner Heimatstadt keine Machttat tut, nur einigen Kranken – sie sind aus dem Bild halt schon herausgefallen – legte er die Hände auf und heilte sie.

» Ich trage Gottes Bild:
wenn er sich will besehn,
so kann es nur in mir,
und wer mir gleicht, geschehn. «
Angelus Silesius (1624-1677): Das Bildnis Gottes (aus: ders: Epigramme)

Jesus zieht durch die benachbarten Dörfer

Jesus verlässt Nazareth, zieht durch die benachbarten Dörfer und lehrt dort. Spürst Du die Lebendigkeit der Verben „ziehen“ und „lehren“? Die, die in Jesu Nachfolge stehen, sind mit Sicherheit davon überfordert, dass ihre Nachfolge nicht ziel-, sondern prozessorientiert ist. Es geht nicht mehr um die viele Gebote und Gebote, die sie aus ihrer angestemmten Religion kennen, um Vorschriften zum Beten, Essen, Gestalten des Alltags und der Feiern.

Es geht um Begegnung, um Heilung, um aufrichtige und aufgerichtete Menschen, es geht um das rechte Hören, Sehen, Sprechen und Berühren,

Der Geist, der den Ezechiel aufgerichtet und auf die Füße gestellt hat, hat sicher auch zu Jesus gesprochen: „Menschensohn, ich sende Dich zu den Söhnen Israels, zu abtrünnigen Völkern, die von mir abtrünnig wurden. Sie und ihre Väter sind von mir abgefallen, bis zum heutigen Tag. Es sind Söhne mit trotzigem Gesicht und hartem Herzen. Zu ihnen sende ich Dich“ (Ez 2,2b-4). Mir geht es überhaupt nicht um eine Unterscheidung zwischen Christentum und Judentum; mir geht es um eine Unterscheidung im Christlichen!

» Mein sind die Jahre nicht,
Die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht,
Die etwa möchten kommen;

Der Augenblick ist mein,
Und nehm ich den in acht
So ist der mein,
Der Jahr und Ewigkeit gemacht. «
Gryphius, Andreas (1616-1664): Betrachtung der Zeit

Wahrhaftig, der Weg ist das Ziel!

Wie stark – und letztlich wie dann auch Leben vernichtend – ist eine zielorientierte Nachfolge, die sich z.B. in einer Kirche zeigt, die an Bildern, Handlungen Traditionen in einer Weise festhält, dass vielem Lebendigen schlicht die Luft wegbleibt? Die Unverständnis bei denen hervorruft, die von „draußen“ draufschauen?

Und wie schwach – und gerade darin stark – kann eine prozessorientierte Nachfolge, die im Moment, quasi en passant, stattfindet, in der Begegnung, durch aufrichtige und aufgerichtete Menschen, durch eine Bereitschaft zu hören, zu sehen, zu sprechen, zu berühren. Nachfolge ereignet sich immer in der Gegenwart! Das Klagen wie auch die Freude über das, was war, oder die Angst bzw. die Hoffnung auf das, was kommen mag oder sein soll, ist für die konkrete Nachfolge, die konkrete Sendung oder die konkrete Berufung nicht wirklich hilfreich. Das ist bei der prozessorientierten Nachfolge anders: Da wird der Weg wahrhaftig zum Ziel – und so kann ich dieses Wort richtig gut hören.

Amen.

Köln, 04.07.2024
Harald Klein