Hinsehen – Zuhören – Anpacken
Manchmal sind es knackige Buchtitel, die die mich locken (und oft genug den Geldbeutel leeren). „Knackig“ sind sie deswegen, weil sie schon auf den ersten Blick den Finger in eine Wunde legen, die schwärt und die jetzt zu schmerzen beginnt, weil genau diese Titel ein Nicht-wahr-haben-wollen aufdecken.
„Hinsehen“ von Volker Toth ist mein Favorit.[1] Nicht als Autor, aber als Fotograf hat Toth (sowohl im Vorübergehen als auch im Innehalten) auf 90 Einzelblättern Details seine Wahrnehmungen fotographisch festgehalten, verschiedenste Autorinnen und Autoren haben Texte zu den Fotos beigesteuert. Alles zusammen ist in einer Mappe in Einzelblättern geliefert. Die These, man nehme im Durchschnitt nur 40 Reize von insgesamt 34 Millionen an einem Tag bewusst wahr, wird aus der gewählten außergewöhnlichen Perspektive heraus an den Fotografien verifiziert. Du siehst Neues, weil du neu siehst!
„Zuhören“ von Bernhard Pörksen wird das bekannteste Buch der drei genannten sein.[2] Pörksen wählt im Untertitel die Worte „Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“. Zuhören, Gehörtwerden, Dialog auf Augenhöhe werden von ihm sowohl als Schlagworte unserer Zeit als auch als Leerformeln der politischen Rhetorik beschrieben. Der Untertitel ist Programm: Zuhören setzt voraus, dass ich mich der Welt öffne, die von sich aus auf mich zukommt. Es wird beim Hören ähnlich sein wie beim Sehen. Auch hier gilt die Frage: was hörst du, was willst du hören – und was will über das Hören zu dir dringen, was blockst du ab oder wo machst du zu?
„Anpacken“ von Simone Schmidt wäre ein dritter Titel.[3] Hier geht es um Projektmanagement in Gesundheitsberufen mit einem besonderen Blick auf vorhandene Ressourcen aller in den Gesundheitsberufen Beteiligten. Und: man darf hier beide Seitenanschauen, die Pflegenden wie die zu Pflegenden., die Helfenden, und die, denen geholfen wird.
Ganz gleich, ob es um das „Sehen“, das „Hören“ das „Anpacken“ geht: bei allen Dreien gilt, dass, wenn dir die Offenheit und die Bereitschaft dazu fehlt, du weder sehen, noch hören, noch anpacken wirst. „Man muss Neues machen, um Neues zu sehen,“ lautet ein bekannter Aphorismus von Georg Friedrich Lichtenberg. Und „das Neue“ liegt in dieser Bereitschaft!
Entscheidung zur Bereitschaft
Im Evangelium wird das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erzählt, der so etwas wie der Schutzpatron der in der Sozialen Arbeit Tätigen (als Profession) ist, aber auch all denen nahe ist, die sich in der sozialen Arbeit (als Ausrichtung und Engagement) einsetzen. Ich setze dieses Gleichnis aus Lk 10,25-37 als bekannt voraus. Die Begegnung mit dem unter die Räuber Gefallenen, an dem ein Priester und ein Levit – amtlich bestätigte oder von Herkunft her würdige Gottesmänner – vorübergingen, kennt diesen Dreischritt von „Sehen“, „Zuhören“ und „Anpacken“. Lukas erzählt: „Der Samariter (ein Nicht-Israelit!) sah ihn und hatte Mitleid (Lk10,33), er gießt Öl und Wein auf seine Wunden, verbindet ihn, hebt ihn auf sein eigenes Reittier, bringt ihn zur Herberge und versorgt ihn – ich vermute, dass dieses Anpacken nicht wortlos geschah! (Lk 10,34). Die Spitze liegt im folgenden Vers: „Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme“ (Lk 10,35).
Ganz gleich, ob die ersten Vorübergehenden nun Priester und Levit oder Winzer und Händler oder Näherin und Sklavin waren – der wirkliche Unterschied liegt in der Bereitschaft, hinzusehen, zuzuhören und anzupacken.
Hermann Baum (*1943) hat in seiner Anthropologie für soziale Berufe[4] eine phänomenologische Grundstruktur der Sozialen Arbeit in fünf Kategorien beschrieben, die in diesem Gleichnis aufgedeckt wird. Baum spricht von der Hilfsbedürftigkeit und der Hilfswürdigkeit des unter die Räuber Gefallenen, von der Hilfsfähigkeit und der Hilfsbereitschaftdes barmherzigen Samariters und schließlich von der helfenden Beziehung, die das Verhältnis nicht nur der beiden, sondern sogar des Hauswirtes umschließt.[5]
Ein Rollentausch am Rande des Weges
Im Evangelium geht es um religiöse und fromme Fragen: was sei religiös geboten, müsse er tun, fragt ein Gesetzeslehre, um das ewige Leben zu erlangen, oder wer denn – im Umgang miteinander – sein Nächster sei. Nichtreligiös oder fromm, aber spirituell kannst du dich fragen, wen du als „unter die Räuber Gefallene“ wahrnimmst, wen du siehst, wem du zuhörst, wo du anpackst – das sind spirituelle Fragen. Hier geht es um den Geist, der dich und dein Leben bestimmt, um deine Weltoffenheit und um dein Ausschließen von Welt in deiner Wahrnehmung. Und: es geht auch um dich als den unter die Räuber Gefallene oder Gefallenen – und ob du dich so zeigen willst, dir helfen lassen willst. Du kannst dich in allen fünf Positionen Baums wiederfinden: in der Hilfsbedürftigkeit und der Hilfswürdigkeit des unter die Räuber Gefallenen, in der Hilfsfähigkeit und der Hilfsbereitschaft des barmherzigen Samariters und schließlich von der helfenden Beziehung zwischen beiden oder über sie hinaus.
Ich begegne den „Räubern“ täglich in der Übermacht der herabgezogenen Mundwinkel, im Diktat der Unsicherheit und der Angst in vielen Lebensbereichen und Beziehungen, in den zumindest sinnbildlich geballten Fäusten der Wut und in der Allgegenwart der Verschleierungen und Lügen. Ich begegne den „Räubern“ in Strukturen – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich –, um die gerungen wird im Blick auf Gerechtigkeit, und in der Weigerung, selbst mit anzupacken.
Um meinen Teil darin zu übernehmen, baue ich auf das, was in drei kleinen Büchern vorgelegt und angeregt wird: hinsehen – zuhören – anpacken. Oder anders: „Man muss Neues machen, um Neues zu sehen.“
So viel für heute, und für diese Woche.
Köln, 09.07.2025
Harald Klein
[1] Toth, Volker (2025): Hinsehen, Loseblatt-Sammlung, gefaltet in einer Mappe, Blockbindung, Salzburg.
[2] Pörksen, Bernhard (2025): Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen, München.
[3] Schmidt, Simone (2022): Anpacken. Projektmanagement in Gesundheitsberufen, 2. Aufl. Heidelberg.
[4] Baum, Hermann (2000): Anthropologie für Soziale Berufe, Opladen.
[5] vgl. a.a.O., 25-32.