Von Räubern überfallen – vom Unbekannten gerettet…
Im Kleinen tagtäglich in der Zeitung und in den „Sozialen Medien“, im Großen immer wieder im Fernsehen, im ganz Großen gelegentlich in „ZDF spezial“ der im „ARD Brennpunkt“: Die Tatsache, dass einer, dass mehrere, das ein ganzes Land „unter die Räuber gefallen“ ist. So wie heute im Evangelium der namenlose Mann auf seinem Weg von Jerusalem hinab nach Jericho: ausgeplündert, niedergeschlagen, halbtot liegen gelassen. Sie kennen die Geschichte, Sie kennen auch den namenlosen barmherzigen Samariter, da bin ich mir sicher. Sie kennen auch die Frage des ebenso namenlosen Gesetzeslehrers in diesem Zusammenhang: „Wer ist mein Nächster?“ Und Sie wissen vom vorbeigehenden namenlosen Priester, vom vorbeigehenden namenlosen Leviten – und vom innehaltenden Samariter (der in Jerusalem „Ausländer“ ist!). Namenlose – kein Spezieller, kein Anonymer, sondern jeder und jede von uns, jeder Name kann eingesetzt werden!
Der Fremde hat weder Staatszugehörigkeit noch Sprache, allemal nicht Religion mit dem unter die Räuber Gefallenen gemein. Aber irgendwas rührt ihn an, er gießt Öl auf die Wunden und verbindet sie, er hebt den der Hilfe Bedürftigen auf sein eigenes Reittier und geleitet ihn zur Herberge, sorgt für ihn und hinterlässt dem Wirt genügend Geld, damit dieser den Bedürftigen pflege.
Der barmherzige Samariter – in der Kirche hochgehaltenes Beispiel für alle Helfenden und Sozialen Berufe, für eine helfende und soziale Kirche; mehr noch: der Barmherzige Samariter ist die von Jesus selbst eingesetzte Ikone der Nächstenliebe: „Dann geh und handle genauso!“ (Lk 10,37). Die Antwort sitzt! Sie stimmt, und sie schmerzt. Das, was der Barmherzige Samariter getan hat, mache ich eben nicht, gehen und genau so handeln – und ich weiß mich darin nicht allein!
… und ich?
Hermann Baum nennt in seinem Grundlagenwerk „Anthropologie für Soziale Berufe“[1] fünf Grundbegriffe, die das Verhältnis zwischen einem hilfsbedürftigen und einem hilfsbereiten Menschen umschreiben. Sie erahnen und entdecken sie im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter, sie gelten für alle Arten der Sozialen Berufe, und darüber hinaus für alle Beziehungen, in denen es um jegliche Form von Hilfe geht, also alltäglich für Sie wie für mich.
Das Evangelium vom Barmherzigen Samariter und dem unter die Räuber Gefallenen, aber auch Ihr und mein alltägliches Erleben von Situationen der Hilfe und Begegnungen im Feld der Hilfe können befragt, betrachtet und beschrieben werden hinsichtlich (a) der Hilfsbedürftigkeit, (b) der Hilfswürdigkeit, (c) der Hilfsfähigkeit, (d) der Hilfsbereitschaft und (e) der helfenden Beziehung.
Für den Sonntag lege ich Ihnen ans Herz, aus den Substantiven schlicht Adjektive zu machen und schweigend die fünf kleinen Sätze, einzeln, nacheinander auf sich wirken zu lassen: (a) Ich bin der Hilfe bedürftig. (b) Ich bin der Hilfe würdig. (c) Ich bin der Hilfe fähig. (d) Ich bin zur Hilfe / zum Helfen bereit. (e) Ich bin Teil einer helfenden Beziehung.
Egal, was sich Ihnen zeigt – ich bin mir sicher, dass der vorübergehende Priester und der vorübergehende Levit sich die Zeit für diese Fragen oder Fragen ähnlicher Art nicht genommen haben. Und ich bin mir sicher, dass mit der Beantwortung dieser Fragen sich Ihnen auch ein Rahmen zeigt, innerhalb dessen Sie eine „helfende Antwort“ leben können – aktiv wie passiv!
Geschenkte Hilfe als Resonanzerfahrung
Gerne möchte ich die Begegnung mit dem unter die Räuber Gefallenen als Resonanzerfahrung deuten. Je nach Art und Weise meiner/Ihrer „Weltbeziehung“ und meines/Ihres „Weltverhältnisses“ kann diese Resonanz auf die Begegnung ganz anders ausfallen. Hartmut Rosa unterscheidet grob zwischen einem „aktiven“ (ich gestalte) und einem „passiven“ (ich werde gestaltet) Weltverhältnis, und innerhalb dieser beiden Weltverhältnisse zwischen einem „weltbejahenden“ und „weltverneinenden“ Modus.[2]
Der in einem aktiven Weltverhältnis weltbejahend stehende Mensch sucht die Weltanpassung; der Barmherzige Samariter steht dafür, wenn er den unter die Räuber Gefallenen in die Herberge bringt und für die Dauer seiner Pflege durch den Wirt zahlt, obwohl er selbst gar nicht bleibt.
Der in einem aktiven Weltverhältnis weltverneinend stehende Mensch sucht die Weltbeherrschung, sucht Veränderung in Struktur und Geschehen. Das auf die Wunden gegossene Öl, das Verbinden der Wunden des unter die Räuber Gefallenen durch den Barmherzigen Samariter könnte dafür einstehen, in der Fantasie könnte Sie weiterspinnen, dass er sich einsetzt für eine Sicherung des Weges (durch andere!), wie auch immer sie aussieht.
Der in einem passiven Weltverhältnis weltbejahend stehende Mensch sucht die Weltbetrachtung, sucht die Kontemplation. Ihm geht es um das Verstehen, um die Hintergründe der Raubzüge, um die Wucht der Gewalt. Das Moment der Weltbejahung wird dadurch deutlich, dass er das Erkannte, das Gesehene, das Verstandene zur Verfügung stellt. Für mein Empfinden gehört hier jede Form der Gewaltprävention hinein, wenngleich ich mir den Barmherzigen Samariter nur schwer als Präventionsbeauftragten vorstellen kann. Und doch ist es ein ganz deutlicher und klarer Ansatz, Präventionen aller Art als zur „Weltbejahung“ zu zählen.
Schließlich der in einem passiven Weltverhältnis weltverneinend stehende Mensch. Er sucht die Weltflucht, sucht Orte und Weisheiten, die helfen, dass er weitgehend unberührt von der Beziehung der Welt auf ihn bleiben kann. Nie würde er von Jerusalem nach Jericho gehen, auf diesem gefährlichen Weg, zumindest nicht allein. Nicht die Möglichkeit den Weg sichern zu lassen („aktiv/weltverneinend“) ist seinem Empfinden gemäß, sondern einfach zu Hause zu bleiben und der „Welt“ auszuweichen („passiv/weltverneinend“).
Leben und Handeln in einer der Hilfe bedürftigen Welt
Für den Sonntag lege ich Ihnen noch eine zweite, z.T. wiederholende Betrachtung ans Herz. Schauen Sie, welche der vier „Typen“ von Weltbeziehung bzw. Weltverhältnis der Typ ist, der bei Ihnen positive, freimachende Resonanz hervorruft – und welcher umgekehrt negative, beklemmende Resonanz erzeugt. Und dann gehen Sie die fünf kleinen Sätzchen noch einmal durch – am besten von beiden „Feldern“ aus: (a) Ich bin der Hilfe bedürftig. (b) Ich bin der Hilfe würdig. (c) Ich bin der Hilfe fähig. (d) Ich bin zur Hilfe / zum Helfen bereit. (e) Ich bin Teil einer helfenden Beziehung.
Nur so verstehen Sie sich, nur so verstehen Sie den anderen, und nur so kommen Sie in die Lage frohen Herzen sich von Jesus sagen zu lassen: „Dann geh und handle genauso!“.
Köln 30.06.2022
Harald Klein
[1] vgl. Baum, Hermann (2000): Anthropologie für Soziale Berufe, Opladen, und Ried, Christoph (2017): Sozialpädagogik und Menschenbild. Bestimmung und Bestimmbarkeit der Sozialpädagogik als Denk- und Handelsform, Wiesbaden.
[2] vgl. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 222.