Seltene Erden?
Der Begriff ist irreführend, seltene Erden sind keine Unterarten i.S.v. verschiedenen Böden; letztlich geht es um 17 chemische Elemente, die als Oxide, als Sauerstoff-Verbindung, vorkommen – das alte Wort für Oxide ist eben „Erden“. Dennoch möchte ich bei diesem Begriff in der Predigt bleiben, dieses in-Verbindung-gehen ist doch gerade der Schlüssel für das Evangelium, es ist eines der bekannten Evangelien, das Gleichnis vom Sämann.
Sind Sie eher Sämann oder eher Saat?
Das Evangelium von der teils hundertfachen, teils sechzigfachen, teils dreißigfachen Frucht, aber auch von der Fruchtlosigkeit kann dazu führen, dass spätestens beim Satz „Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen“ Sie alle in den Bänken ein wenig abrutschen. Sie kennen es! Und letztlich gehört es zu den Texten, die eher ein schlechtes Gewissen oder Gefühl hinterlassen als dass sie anspornen, einen Impuls geben. „Hundertfach Frucht bringen“ – wer kann das schon bringen?
Ein kleines Experiment: Sehen Sie sich in diesem Evangelium eher in der Figur des Sämanns, oder im Bild der Saat? Geben Sie, im Bild: „säen Sie“ das Ihre – der aktive Part? Oder werden Sie, im Bild: „lassen Sie sich“ säen – der passive Part? Das macht einen gewaltigen Unterschied.
Sich als „Saat“ sehen
Sie dürfen sich als Saatkorn Gottes sehen, ausgesät auf den Boden, auf dem Sie stehen. Sehen Sie sich auf dem „Weg“, auf dem Sie von Vögeln, von den flattrigen Erlebnissen der Zeit, aufgepickt, aufgefressen werden? Sehen Sie sich auf dem „felsigen Boden“, auf dem es keine Tiefe, kein Durchkommen und kein Weiterkommen mehr gibt? Hier wird es Ihnen schnell zu heiß, Ihre Wurzeln finden keine Nahrung. Sehen Sie sich in den „Dornen“, die Sie zu umschlingen drohen, in denen Sie das Gefühl des Erstickens haben? Und jetzt: Können Sie den „Weg“, den „felsigen Boden“, die „Dornen“ benennen, ihnen einen Namen geben? Und geht das auch mit dem „guten Boden“, der Sie umfasst und aufnimmt, und in dem Sie wirklich Frucht bringen können, dreißig-, sechzig, hundertfach? Hat der „gute Boden“ auch einen Namen?
Jedes Bild hat seine Grenzen, hier sind sie besonders deutlich. Die Saat, die der Sämann aussät, fällt auf den „Boden“ und muss liegenbleiben. Sie nicht! Wenn Sie sich in diesem Gleichnis in die Rolle der „Saat“ begeben, können Sie aufstehen, den „Vögeln“ entfliehen, den „felsigen Boden“ hinter sich lassen, sich aus den „Dornen“ befreien und den „guten Boden“ suchen, der sie „Frucht tragen“ lässt, auf dem Sie ein Stück dem Himmel entgegenwachsen können. Dieser „gute Boden“ gehört buchstäblich für jeden Menschen zu den „seltenen Erden“; mit ihm müssen Sie in Verbindung kommen, damit so die Luft zum Leben für Sie entsteht. Zugegeben: das Aufbrechen und das Weggehen von dem Boden, der für Sie ja lange mit „Heimat“ gleichgesetzt wurde, fällt in den meisten Momenten schwer; man weiß nicht, was kommt, und ob man wirklich zu einem besseren Boden, zu den „seltenen Erden“ durchstößt. Hermann Hesse (1877-1962) spricht in seinem Gedicht „Stufen“ von der Heiterkeit, in der „Raum um Raum durchschreiten sollen“ – eben um diese „seltenen Erden“ zu finden.
Sich als „Sämann“ sehen
Ganz anders – und doch ähnlich – verhält es sich, wenn Sie sich mit dem Sämann im Gleichnis identifizieren. Im Evangelium geht der Sämann mit seiner Samenschüssel und sät – eine Frucht, eine Sorte Saat ist es, die da ausgesät wird, die auf unterschiedliche Formen des Bodens fällt und entsprechend viel oder wenig Frucht trägt. Da ist die Grenze des Bildes schnell im Blick. Es bleiben drei Möglichkeiten: (1) Sie haben nur das Eine, das Sie aussäen; Sie differenzieren die Böden nicht und säen gleichmäßig aus. Dann geht es Ihnen wie dem Sämann im Gleichnis. Beschweren Sie sich nicht, Sie hätten es besser machen können! (2) Sie haben Einiges und Verschiedenes, was Sie säen und austeilen können, aber Sie differenzieren die Böden nicht. Da mag das eine wachsen, das andere ersticken; es bleibt den Böden und den Vögeln und den Dornen überlassen. (3) Sie wissen, was zu säen auf welchem Boden sich lohnt, und genau das tun Sie. Und sie lassen die felsigen und von den Dornen überzogenen Böden einfach links liegen. Das setzt so etwas wie „Bodenkunde“ voraus, und die Bandbreite der Böden ist weit. Da mag es die „seltenen Erden“ geben, auf denen Sie mit der Saat selber ins Wachsen kommen. Da mag es Frucht geben, dreißig-, sechzig-, hundertfach. Und da, wo nichts mehr wächst, säen Sie einfach nicht mehr. Den Staub von den Schuhen schütteln, nennt Jesus das.
Wieder klingt es einfacher als es ist. Es gibt – so Hermann Hesse im „Stufen“- Gedicht – eine lähmende Gewöhnung, die eine Haltekraft hat. Es gibt wieder das Gefühl von „Heimat“: Hier will ich unbedingt und auf jeden Fall noch einmal säen, mal sehen, was dieses Jahr wird. Es gibt die Angst, neue Wege, neue Felder, Neuland unter die Füße zu nehmen; hier weiß ich, was ich habe, was ich anderswo bekomme, weiß ich nicht.
Seltene Erden sein
Eine letzte Betrachtung zum Evangelium, die Saat und Sämann übersteigt: Es geht um die Frage, was für ein „Boden“ Sie sind? So voll, so begangen, dass das Erdreich fest ist und die Saat der anderen kaum in Sie eindringen kann? Felsig und verhärtet, so, dass andere mich nicht in der tiefe erreichen oder Wurzeln schlagen können in Ihnen? Dornig, vielleicht zornig und widerspenstig den anderen – und sich selbst – gegenüber, sodass jedes an Sie gerichtet Lebenswort und Lebenszeichen im keim erstickt wird? Wenn Sie den Mut dazu aufbringen, fragen Sie doch mal die, die mit Ihnen zusammenleben, was Sie über Ihre „Bodenhaftigkeit“ denken. Vielleicht mit der Frage, was schon geschehen ist oder was geschehen sollte, wie sich die Verbindung gestalten sollte, damit Sie für die anderen – und für sich selbst – zur Gruppe der „seltenen Erden“ gehören und auch so erlebt werden.
Amen.
Köln, 11.07.2020
Harald Klein
Hermann Hesse: Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen;
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!