15. Sonntag im Jahreskreis – Vertraut den neuen Wegen

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Wie Lieder entstehen

Da kommt die Nichte 1989 in Thüringen zu ihrem Patenonkel und wünscht sich für ihre Hochzeit ein neues Kirchenlied. Der Onkel, Klaus-Peter Hertzsch (1930-2015) war Theologe, Dichter und Buchautor sowie Professor für Praktische Theologie an der Universität Jena. Der Trauspruch der Nichte und ihres künftigen Mannes war „Ich will Dich segnen, und Du sollst ein Segen sein“ aus der Abrahamsgeschichte in Gen 12. Und die Bitte: Schreibe das Lied auf eine bekannte Melodie.[1] Der Patenonkel dichtet das Lied „Vertraut den neuen Wegen“ auf die schon bekannte Melodie des Liedes „Du meine Seele singe“ aus dem evangelischen Gesangbuch (EG 395). Das neue, das Hochzeitslied wird dann auch aufgenommen in manchen Bistumsteil des neuen katholischen Gotteslob, z.B. GL 825 im Bistum Köln.

» Vertraut den neuen Wegen,
auf die der Herr uns weist,
weil Leben heißt: sich regen,
weil Leben wandern heißt.
Seit leuchtend Gottes Bogen
am hohen Himmel stand,
sind Menschen ausgezogen
in das gelobte Land. «
Klaus Peter Hertzsch (1989): Vertraut den neuen Wegen, 1. Strophe (GL 825,1).

So entstehen manche Lieder: ein Anlass, der zum Singen lockt – jemand, der die Stationen des Lebens „verdichtet“ – eine gemeinsame, vielleicht schon bekannte Melodie, die das gemeinsam gesungene Lied erst ermöglicht.

Aufbruch – Der Anlass, der zum Singen lockt

Einen Anlass, der zum Singen verlocken kann, ist der Beginn des heutigen Evangeliums: „Jesus rief die Zwölf zu sich und sandte sie aus, jeweils zwei zusammen.“ Die Wanderlieder der deutschen Romantik sind den Aposteln natürlich fremd, auch die Kunst des Kanon-Singens, die ja eine musikalisch spezifisch deutsche Mentalität widerspiegeln. Dennoch: da gehen sie Zwei und Zwei, nicht nur ohne ihren Meister, sondern an Seiner statt. Da gehen Sie, zwar mit einem Wanderstab ausgerüstet, aber ohne Brot, ohne Vorratstasche, ohne Geld und Gürtel, ohne zweites Hemd und an den Füßen nur Sandalen. Das Einzige, was sie haben, ist der andere neben sich – und, ja und was noch? Eine sie begleitende Angst vielleicht? Oder eher eine Hoffnung, vielleicht sogar Vertrauen? Eine gespannte und gleichzeitig gelöste Neugier?

Allemal bleibt die Frage: Welche Stimmung, welche innere Melodie bringt diese Situation des Aufbruchs, des Losgehens, des Geschickt-werdens, auch des Abschieds und der Auflösung bei den Aposteln hervor, welche Melodie oder welches Lied brächte es bei Ihnen hervor? Singen Sie etwas nach, singen Sie mit, greifen Sie auf Bekanntes zurück – oder dichten (und komponieren) Sie selbst? Oder noch anders: Verstummen Sie, verschlägt es Ihnen die Sprache und erst recht das Singen?

» Vertraut den neuen Wegen
und wandert in die Zeit!
Gott will, dass ihr ein Segen
für seine Erde seid.
Der uns in frühen Zeiten
das Leben eingehaucht,
der wird uns dahin leiten,
wo er uns will und braucht. «
Klaus Peter Hertzsch (1989): Vertraut den neuen Wegen, 2. Strophe (GL 825,2).

Weg – Die Stationen des Lebens „verdichten“

Sie können, wenn Sie möchten, die Stationen der Apostel auf ihrem Weg mit den Stationen Ihres Lebensweges in Verbindung bringen. Schauen Sie, ob Sie schlicht die vergangene Woche rückschauend in den Blick nehmen, oder das erste halbe Jahr 2021, oder die bisherige Corona-Zeit, wählen Sie sich Ihren Abschnitt.

Und „verdichten“ Sie ihn!

„Bleibt in dem Haus, in dem Ihr einkehrt, bis Ihr den Ort wieder verlasst!“ (Mk 6,10) Schauen Sie sich die Häuser, die Familien, Gruppen, Menschen an, die Ihnen eine gute Bleibe bieten, vielleicht sogar eine gute Bleibe sind. Und natürlich auch die, die bei Ihnen eine gute Bleibe suchen. Loten Sie doch einmal die Begriffe auf ihre Tiefe hin aus, die damit zusammenhängen: Bleibe, Gastfreundschaft, sich wie zu Hause fühlen, und was Ihnen noch dazu einfällt. Vielleicht kommt Ihnen auch ein Lied, ein Vers, eine selbst gefasste Melodie oder ein kurzes selbst geschriebenes Gedicht. Singen heißt hier, der Dankbarkeit für das Erlebte einen Ausdruck zu geben.

Das gilt aber auch für die schwierigen Stationen:

„Wenn man Euch aber an einem Ort nicht aufnimmt und Euch nicht hören will, dann geht weiter und schüttelt den Staub von Euren Füßen, ihnen zum Zeugnis.“ (Mk 6,11) Für die, die sich von Christus her gesendet wissen, kann dieses Wort Jesu eine wirkliche Hilfe, Stütze, Deutung sein. Der Mensch, der Vertrauen nach vorn hat, kann sich von vermeintlichen Absicherungen hach hinten lösen. Der, der sich nicht nach hinten klammert, hat den Blick, das Herz, die Hände und die Füße frei für den Weg nach vorn. Das klingt nach Alltagsplatituden für Kalenderblätter, dahinter verbirgt sich aber das Wissen und die Mystik vor allem der östlichen Religionen und Weltanschauungen. Oder um an Ignatius von Loyola zu erinnern: Das tun, was „mehr“ (magis) dem Leben, der inneren Freiheit, dem Wachstum der Seele und des Herzens, auch der Gemeinschaft dient. Da hat „den Staub von den Füßen abschütteln“ mehr Berechtigung als das Klammern und Festhalten am Alten.

In der alten Einheitsübersetzung der Bibel endete Vers 6,11 mit „und schüttelt den Staub von Euren Füßen, zum Zeugnis gegen sie“ übersetzt, die neue Einheitsübersetzung verändert ihn: „und schüttelt den Staub von Euren Füßen, ihnen zum Zeugnis.“ Die alte Übersetzung klingt wie eine Du-Aussage i.S.v. „mit Euch will ich nichts mehr zu tun haben“. Die neue Übersetzung betont die „Ich-Aussage“: „Macht Ihr so weiter, ich brauche Euch nicht.“ Die alte Übersetzung betont Verärgerung, Enttäuschung und Zorn, die neue Übersetzung Wagemut, Selbststand und Aufbruch. Psychisch gesehen gehört beides zusammen, bildet es doch einen Entwicklungs- und Wachstumsweg. „Den Staub von den Füßen schütteln“ – welche Stationen kommen Ihnen da? „Zum Zeugnis gegen sie/ ihnen zum Zeugnis“ – welches Moment der Entwicklung entdecken Sie da? Und: Fällt Ihnen ein Lied, eine Melodie ein, kommt Ihnen selbst eine Melodie, ein kleiner Text? „Verdichten“ Sie doch Ihre Stationen.

» Vertraut den neuen Wegen,
auf die uns Gott gesandt!
Er selbst kommt uns entgegen.
Die Zukunft ist sein Land.
Wer aufbricht, der kann hoffen
in Zeit und Ewigkeit.
Die Tore stehen offen.
Das Land ist hell und weit. «
Klaus Peter Hertzsch (1989): Vertraut den neuen Wegen, 3. Strophe (GL 825,3).

Hören und Einstimmen – „Nehmt Gottes Melodie in Euch auf“

Um 107 n.Chr. schrieb der Kirchenlehrer Ignatius von Antiochien an die Gemeinde in Ephesus in einem Brief einen Vers, aus dem der Münsteraner Spiritual Johannes Bours ein ganzes Buch machte: „Nehmt Gottes Melodie in Euch auf.“[2]

Wenn Sie in der Rolle der Apostel stecken würden, hätten Sie die „Melodie Jesu“ oft genug gehört, sogar gesehen und erlebt, was sie vermag. Sie könnten sie mitsingen, nachsingen, Sie könnten einstimmen und – sofern Sie fern der fundamentalistischen Strömungen sind – sogar mehrstimmig erklingen lassen. Sie haben die Fähigkeit, diese Melodie bei Sängerinnen und Sängern zu erahnen, die mit „Ihrem“ Christus gar nichts zu tun haben – es gibt im Gegensatz zum Urheberrecht der Künstler und der Institution der GEMA – keinen Alleinstellungsanspruch auf die Melodie des Geistes auf die Melodie Gottes. Gott liebt die Vielfalt!

Was die Lebenswege, das Bleiben, das Verlassen, das Aufbrechen angeht, möchte ich Johannes Bours das letzte Wort lassen: „Seltsam: Gottes Melodie kann ich nicht auswendig lernen, denn sein Lied geht weiter, ist immer neu, ist überraschend. Denn es ist doch ein Liebeslied, das Liebeslied Gottes für mich; und die Liebe erfindet immer neue Melodien. Und er wartet darauf, dass ich sein Lied weitersinge, mitsinge.“[3]

Nein, das letzte Wort, das es auf den Punkt bringt, hat Klaus-Peter Hertzsch: „Vertraut den neuen Wegen!“

Amen

Köln 09.07.2021
Harald Klein

[1] Die Geschichte des Liedes und eine weitere Predigt zum Lied „Vertrau den neuen Wegen“ finden Sie auf [online] https://www.herder.de/pb/hefte/archiv/2007/1-2007/vertraut-den-neuen-wegen-liedpredigt-ueber-eg-3951-3/ [09.07.2021].

[2] Bours, Johannes (1985): Nehmt Gottes Melodie in euch auf, Freiburg.

[3] A.a.O., 41.