16. Sonntag im Jahreskreis – Ausrotten oder wachsen lassen?

  • Predigten
  • –   
  • –   

Pole und Polaritäten im Leben

Wir könnten hier im Gottesdienst ein kleines Spiel miteinander spielen. Ich sage ein Wort, und Sie sagen, was Ihnen ziemlich spontan einfällt.

Ich sage „schwarz“ – und Sie sagen …
Ich sage „Nordpol“ – und Sie sagen …
Ich sage „jung“ – und Sie sagen …
Ich sage „gesund“ – und Sie sagen …
Und passend zum Evangelium: Ich sage „Weizen“ – und Sie sagen …

Das, was auf den ersten Blick, beim ersten Hinhören eher wie „Gegensätze“ aussehen oder klingen, das gehört im Leben in Wirklichkeit zusammen. Vom Leben kann man nur reden, wenn es den Tod gibt, vom Alter nur, wenn man das Jungsein kennt, und vom Unkraut eben nur dann, wenn man auch das Heilkraut, im Gleichnis: den Weizen kennt. Das ist das erste, auf das ich Ihren Blick heute lenken möchte: Unkraut und Weizen – zwei Seiten einer Medaille!

Und das zweite ist die Tatsache, dass zwischen zwei Polen eine Spannung besteht, wenn sie in irgendeine Art von Berührung miteinander kommen. Ich kann mich gut an die großen Batterien mit den Drahtzungen aus meiner Kindheit erinnern. Wehe, sie sind mit der eigenen Zunge an die beiden Metallbügel gekommen. Aber dies Spannung besteht auch zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen jung und alt, zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd.

Ein achtzigster Geburtstag

Wir feiern heute im Gottesdienst auch mit Dankbarkeit einen Geburtstag. Sr. Hedwig blickt im Kreis Ihrer Familie und ihrer Mitschwestern auf 80 Jahre zurück. Da wäre es spannend, einmal nach diesen Polaritäten zu fragen. Was mag da gewesen sein an Freude – und an Leid, an Weißem – und an Schwarzem, an Gesundheit – und an Krankheit, an Menschen, bei denen Ihnen das Herz aufgeht – und an Menschen, denen Sie lieber auch mal den Rücken drehen, kurz: was mag da gewesen sein an Weizen – aber auch an Unkraut?

» Worauf Jesus in dieser Erzählung nämlich den größten Wert legt, ist die Feststellung, dass es nicht möglich sei, das sogenannte Gute isolieren zu wollen von dem sogenannten Bösen, ohne alles zu zerstören; das eine wie das andere müsse sich auswachsen, das ist seine Perspektive. «
Drewermann, Eugen (1994): Das Matthäus-Evangelium. Bilder der Erfüllung. Bd. 2, Düsseldorf, 285.

Die große Versuchung des „Uni-Polarität“

„Sollen wir gehen und das Unkraut ausreißen?“, fragen die Knechte im Gleichnis. Die große Versuchung besteht darin, das Unkraut auszureißen, oder es wenigstens zu isolieren. Das wäre doch was, wenn alle Übeltäter der Welt weggesperrt und nur die Guten am Leben und in Freiheit wären; das wäre was, wenn gegen alle Viren der Welt ein Kraut gewachsen wäre, wenn sich alle an alles halten würden, was Gesetz und Ordnung ist. Mit anderen Worten: Wenn die Welt, wenn das Zusammenleben, wenn ich in meiner Persönlichkeit und mit allem, was zu mir gehört „unipolar“ wäre – zugegeben, das Wort, den Begriff gibt es nicht. Gottseidank. Wenn es den Begriff gäbe und ich wäre es, wäre (wir haben es oben gesehen) nicht mehr unterscheidbar, war Unkraut und was Weizen ist, und jede Spannung wäre aus meinem Leben verschwunden. Nichts langweiliger als das! Unipolarität ist eben die Eintönigkeit pur!

Die Perspektive Jesu: Auswachsen lassen

„Herr, soll ich gehen und das Unkraut ausreißen – das Unkraut, das neben dem Weizen in mir selbst wächst, das Unkraut in meiner Gemeinschaft, in meiner Kirche, das Unkraut in der Gesellschaft und in der Welt um mich herum?“, könnten wir fragen, könnte Sie, Sr. Hedwig, so rund um Ihren Geburtstag fragen. Die Antwort Jesu ist wunderschön. „Nein, damit Du nicht zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen ausreißt. Lass beides wachsen bis zur Zeit der Ernte.“ Wer weiß denn, was aus dem, was heute wie Unkraut aussieht, noch werden wird? Wer weiß denn, wie Gott auf krummen Zeilen gerade zu schreiben vermag? Wer weiß denn, was aus den kleinen Anfängen noch werden kann? Am Anfang beginnt alles ganz klein, Weizen und Unkraut – und es hat die Perspektive des Wachsens, der Zukunft noch vor sich. Das gilt auch im Alter! Die Möglichkeit der Saat, des Wachstums, der Blüte und der Ernte hört nicht einfach auf mit dem Alter.

Ernten: Leben mit dem, was ist

Gewöhnlich verbinden wir Christen den Begriff der Ernte mit dem Sterben, mit dem Tod – dann wird die Ernte des Lebens eingefahren. Sie können es genauso zu jedem Jahresbeginn machen, am Geburtstag oder an jedem Abend – die Ernte des Jahres, des Tages einfahren. Machen Sie es nicht unipolar – nicht die Gewinne, das Gute, gegen die Verluste, das Bösen aufrechnen und die Verluste, das Böse wegschieben. Die Ernte einfahren heißt zu leben mit dem, was ist. Trauen Sie sich – und ich meine das nicht medizinisch, sondern humanistisch – „bipolar“ zu sein. Unkraut und Weizen gehören zu Ihnen. Lassen Sie beides auswachsen – vielleicht hat das Unkraut in Ihnen ja gar nicht so viel Kraft und Wachstumsvermögen, „Grünkraft“ nennt es die hl. Hildegard von Bingen, sich wachsend durchzusetzen. Heil werden wir Menschen, egal wie alt wir sind, nur dann, wenn wir alles akzeptieren, was ist, wenn wir alles aufnehmen, und nichts von uns aus tun, sondern Gott und seinen Geist in uns walten lassen. Möge er sich unseres Unkrautes annehmen, es in Bündeln sammeln und verbrennen, und möge er sich freuen an unserem Weizen, und wir mit ihm.

Amen.

Köln, 19.07.2020
Harald Klein