„Fünf S“ – oder: was hängen geblieben ist
Im Kontakt mit dem einen ehemaligen Schüler oder der anderen ehemaligen Schülerin kann ich ziemlich sicher sein, dass eines aus dem Religionsunterricht hängen geblieben ist – es geht um die „Fünf S“. Eine beliebte Abituraufgabe in dieser Zeit war die Frage nach der Reich-Gottes Verkündigung Jesu und wie er dieses Reich Gottes darstellte. Für wenige Aufgaben musste man so wenig vorbereiten, denn die „Fünf S“ genügten: Sämann – Senfkorn – Sauerteig – selbstwachsende Saat. Und das Besondere: sie alle finden sich in Mt 13![1] Jetzt gilt es nur noch, die Bildsprache der Gleichnisse vom Reich Gottes zu deuten.
Drei Gemeinsamkeiten
Allen vier Gleichnissen sind drei Quasi-Formalia gleich: (1) immer gibt eine handelnde Person, z.B. einen Sämann auf dem Feld oder die Frau am Trog mit Mehl; (2) immer gibt es einen Verzicht auf Selbstwirksamkeit und ein festes Vertrauen auf Wachstum, sei es bei der Saat oder in der Hoffnung auf das Durchsäuern des Troges mit Mehl; (3) immer erleben alle handelnden Personen, dass ihr Vertrauen belohnt wird, wenn auch in unterschiedlicher Auswirkung, teils vierzig-, teils sechzigfach, trotz des Unkrauts unter dem Weizen.
Jesus werden angesichts dieser Gemeinsamkeiten die Worte in den Mund gelegt: „Ich verkünde, was seit der Schöpfung verborgen war.“ Vielleicht geht es beim Reich Gottes um diese drei Gemeinsamkeiten. Mich reizt es, diese drei Gemeinsamkeiten, die Phänomene – Erscheinungsweisen – des Reiches Gottes unter dem Begriff des Grundvertrauens ein wenig zu vertiefen.
Ein Deutungsansatz: Grundvertrauen
Ich tue das nicht in theologischer Begrifflichkeit, sondern greife zurück auf die Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“. Eine Autorin oder ein Autor mit dem Kürzel A.Lä. definiert „Grundvertrauen“ wie folgt:
„Grundvertrauen, in der Existenzanalyse das tiefste und letzte Vertrauen-Können des Menschen. Vertrauen wird in der Existenzanalyse definiert als Einwilligung, sich einer haltgebenden Struktur zu überlassen, um die vorhandene Unsicherheit (Risiko) zu überbrücken. Voraussetzung dafür ist Mut von seiten der Person und Haltvermittlung von seiten des Objekts. Grundvertrauen kann somit definiert werden als (unbewusst) vollzogener Akt des Sich-Einlassens auf den ‚letzten‘ Halt – in das, was sich einem als Seinsgrund gezeigt hat. Ihm liegt die Erfahrung zugrunde, dass immer etwas ‚da ist‘, das auffängt und Halt gibt. […] Erlebensbezogen läuft Grundvertrauen auf das Gefühl hinaus, dass es ‚nie aus ist, sondern immer irgendwie weitergeht‘. Im metaphorischen Sinne ist Grundvertrauen das Vertrauen, dass das Dasein einen Grund hat und nicht ‚grundlos‘ ist. Die Erfahrung der Unumstößlichkeit des Grundes des Daseins geschieht zeitlebens, schon vor der Geburt (daher keine Restriktion auf eine Prägephase im 1. Lebensjahr). Das Fehlen eines tiefen Vertrauens in den letzten Halt hinter allen singulären Erfahrungen führt zu den existentiellen Defizienzgefühlen Unsicherheit, Angst, Verschlossenheit mit ihren entsprechenden Copingreaktionen.“[2]
Spannend wird es dann, wenn Sie das Wort „Grundvertrauen“ in seine beiden Komponenten „Grund“ und „Vertrauen“ aufteilen und entweder einen der beiden Teile oder beide Teile gleichzeitig anfragen (mit einem „?“) oder behaupten (mit einem „!“).
und es hat mich hierher geführt. «
Viermal Grund-Vertrauen, vier Weisen zu leben und zu glauben
Ich beginne mit der vermutlich leichtesten und zugleich schwersten ersten Weise. GRUND? VERTRAUEN? – Mit Blick auf mein Leben: Welchen Grund habe ich, der mich trägt, der mich wachsen und Frucht tragen lässt? Welche Überzeugung „durchsäuert“ mein ganzes Leben so, dass es mich und andere nährt? Wenn ich auf solche Fragen keine Antwort finde, brauche ich nach einem Vertrauen – egal auf wen oder was – schon gar nicht mehr fragen. Reich Gottes – Du kannst mir gestohlen bleiben!
Die zweite Weise: GRUND! VERTRAUEN? Mit Blick auf mein Leben: Ich schaue um mich herum in der Horizontalen (wer oder was lässt mich Leben, ist Grund meines Jas zu meinem Leben) und/oder in der Vertikalen (da ändert sich das Tempus auf die Vergangenheit und die Zukunft hin: wer oder was ließ mich leben oder könnte mich leben lassen?) Reich Gottes – von Dir haben ich zumindest eine Ahnung aus der Vergangenheit, einen Namen oder Begriff in der Gegenwart, eine Hoffnung für die Zukunft. Ob all das trägt, das ist die (Vertrauens-) Frage! „Vertrauen“ steht hier als Subjekt und als Objekt des Satzes!
Die dritte Weise: GRUND? VERTRAUEN! Im Blick auf mein Leben: das ist schnell erzählt. Wenn ich keine Gründe finde, stehe ich vor der Alternative des Verzweifelns oder der Entscheidung des Vertrauens ins bisher Absurde, in der Hoffnung, einen Weg zu finden. Da wäre Sören Kierkegaard oder Albert Camus gute Lehrer. Es bleibt ein Ringen um das Vertrauen in das Leben, in das Getragensein, um den „Grund“, auf dem das, was ich aussäe, wachsen und Frucht tragen kann, und auf dem ich selbst wachsen kann wie der Senfbaum und durchsäuert werde wie das Mehl im Trog. Reich Gottes – da fällt mir am ehesten Jakobs Kampf am Jabbok (vgl. Gen 32,23-33) und die schöne Bach-Motette ein: „Ich lasse Dich nicht, du segnest mich denn“. Es geht um das Dranbleiben, um das Ringen um Vertrauen. Wer die dunklen Zeiten im Glauben kennt, weiß, was „Ringen“ meinen kann.
Und schließlich die vierte Weise: GRUND! VERTRAUEN! Schnell geschrieben, schwer gelebt! Ich kenne das, Sie auch: Das Sämann-Gleichnis und die verschiedenen Böden, auf die vieles fällt, bei mir, bei anderen. Die kurzen, schönen Begegnungen, klein wie ein Senfkorn, aus denen Großen erwachsen kann. Angefixt zu werden von einer Idee wie von einem Sauerteig, die mich mehr und mehr erfüllt und mein Leben durchsäuert – zugegeben, hier ist „durchsäuern“ ein unglücklicheres Wort. Oder das Unkraut, das neben meinem Weizen selbstwachsend wächst und zur Zeit der Ernte vom Weizen getrennt werden wird. Wie gesagt: Ich gehe davon aus, dass Sie – wie ich – all das kennen! Ob Sie – wie ich – all dem auch vertrauen, auf all dem aufbauen, das ist die Frage. Reich Gottes – ich ahne, es ist mitten unter uns, sogar in meiner eigenen Mitte. Jetzt gilt es, dem zu vertrauen und darauf aufzubauen.
„Fünf S“ – oder: was hängen bleiben will
Um zum Ende zu kommen: Ich möchte Ihnen gerne die „Fünf S“ mitgeben: Sämann – Senfkorn – Sauerteig – selbstwachsende Saat!
Aber ich möchte sie Ihnen ausdrücklich nicht mitgeben, wie früher in der Schule als Vorbereitung für eine Klausur, sondern als Suche nach einem „Grund“ für Ihr Leben. So, dass die „Fünf S“ zu einem benennbaren, mitteilbaren und tragenden Grund für Ihr Vertrauen ins Leben werden können. Als Grundvertrauen eben, als „das tiefste und letzte Vertrauen-Können des Menschen“ (vgl. Anm. 2). Reichlich Reich Gottes Ihnen.
Amen!
Köln, 22.07.2023
Harald Klein
[1] Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat findet sich in Mt 4 – es ist mit dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen aber so verwandt, dass ich es hier (wie früher im Religionsunterricht) gerne mit nenne.
[2] vgl. [online] https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/grundvertrauen/6110 [21.07.2023] – den im zitierten Text ausgesparte Inhalt in […] ist hier abgedruckt; er ist für den Gang der Predigt nicht von Belang, erläutert jedoch den Halt, den ein Grund gibt: „1) Selbstvertrauen: Ein im letzten auf sich selbst Vertrauen-Können (Selbst-Treue – zu sich stehen; Ur-Mut – Erfahrung der nicht versiegenden ‚Kraftquelle Leben‘; Ur-Potenz – Dasein ist immer auch schon ein Können). 2) Weltvertrauen: Ur-Vertrauen und Ur-Treue (Menschen, die in lebenswichtigen Zeiten bedingungslos zu einem gehalten haben, Urerfahrung des Versorgtseins); Strukturvertrauen – ‚es wird schon weitergehen‘ (sich in einem Gefüge verstehen, in dem für einen geplant ist). 3) transzendentales Vertrauen: Vertrauen in etwas, das diese Welt trägt (Glaube – ist psychotherapeutisch als Haltung, aber nicht als Inhalt Thema).