Drei Stadtszenarien
Drei Szenarien aus Köln sollen am Anfang stehen, entweder kennst Du sie selbst – wenn auch aus einer anderen Stadt, oder Du kannst sie Dir vor Deinem geistigen Auge entstehen lassen und ausmalen.
Das erste Szenario: Mit der Linie 15 fahre ich in Richtung Südstadt. Gleich am Ebertplatz tritt ein Obdachloser in die Bahn, er erzählt lautstark seine Geschichte und bittet um eine „Spende“. Die Frau, die neben ihm sitzt, steht auf und geht vier Reihen weiter nach hinten, verständlich, der Mensch riecht stark. Am Hansaring steigt er aus, den Gesichtern der Mitfahrenden ist Erleichterung anzusehen, manche äußern auch ihr Unverständnis und zeigen, dass sie sich belästigt fühlen. Ich erwische mich in der Erleichterung, dass der Obdachlose in der Bahn nur in Fahrtrichtung ging, nicht nach hinten, wo ich sitze. Aber dann, am Zülpicher Platz steigt ein Obdachloser in die die Bahn usw… – Was empfindest Du, in der Situation, für den Obdachlosen, für Dich, für die um Dich herum?
Das zweite Szenario: Ein Gang durch den Kölner Hauptbahnhof, am Breslauer Platz ausgestiegen, jetzt geht es durch die Bahnhofshalle hin zu Gleis 7, ziemlich mittig gelegen. Einzelne, Paare, Gruppen kommen entgegen, manche schlendern, die meisten eilen, die Gesichter oft verkrampft, unter Druck. Die Treppe hoch, am Bahnsteig fragende Gesichter, wütende Worte, mal wieder „Verspätung aus vorheriger Fahrt“ oder „Fällt heute aus, wir bitten um Entschuldigung“. Die Frage ist, ob Dein Zug kommt. – Was empfindest Du, in der Situation, für Dich, für die um Dich herum?
Das dritte Szenario: Im ICE auf der Heimfahrt von Maulbronn nach Köln am Sonntag, 15.06 – ein Tag nach der 2:0 der „unserer“ gegen die schottische Mannschaft – sitzen eine Menge schottischer Fans, erkennbar am Kilt und, ja, auch an den roten Haaren – im Zug. Lange Zeit eine angenehme Stimmung, man gratuliert und tröstet sich mehr schlecht als recht. Unverkrampft, beinahe freundschaftlich. Vier junge Burschen, nicht älter als 15 oder 16 Jahre, kommen in den Großraumwagen, drücken sich auf einem Zweiersitz zusammen, und lassen immer und immer wieder „deutsche Tor-Hymne“, Major Toms „Völlig losgelöst“, laufen, singen es grölend mit; den vielleicht 20 schottischen Gästen im Wagen schläft mehr und mehr das Gesicht ein, die Stimmung kühlt merklich ab. – Was empfindest Du, in der Situation, für die Gäste aus Schottland, für Dich, für die um Dich herum?
Ein Uferszenario: Jesus am See
Es ist nicht die Stadt, im Gegenteil, es ist eine einsame Stelle am Ufer des Sees Genezareth, dass uns der Evangelist Markus heute vor Augen stellt. Die Jünger haben ihren Auftrag, zu dem sie ausgesandt waren, erfüllt, kommen zurück, erzählen, was sie erlebt haben – und Jesus flieht mit ihnen mit einem Boot in die Einsamkeit, damit sie mit ihm ausruhen und essen können. Aber die Menschenmenge lässt nicht locker und läuft am Ufer entlang zu der Stelle, wo Jesus und die Jünger anlegen, kommen sogar noch vor dem Boot an. Jesus steigt aus dem Boot aus – und hier beginnt jetzt dieses Szenario: Wen, was nimmt er wahr – um sich herum? Was nimmt er wahr – in sich selbst? Was nimmt er wahr – bei den Jüngern, denen er die Einsamkeit und ein ruhiges Mahl hat gönnen wollen?
Markus gibt eine kurze Antwort: „Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange“ (Mk, 6,34).
Die Unterscheidung: Mitleid – Empathie – Selbstmitgefühl
Übersetzungen sind immer auch schon Interpretationen. Die alte Einheitsübersetzung von 1979 übersetzt denselben Vers mit „Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerten ihn, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er fing eine lange Predigt an.“ Auf diese Unterschiede in den Interpretationsmöglichkeiten möchte ich Deinen Blick richten.
Da ist die Rede vom „Mitleid haben“. Das erste, das KVB-Szenario oben, bekomme ich am ehesten mit „Mitleid haben“ in Zusammenhang. Ich sehe die Not, ich kann sie sogar riechen – und unter „Mitleid haben“ kann der Euro, kann die erbetene „kleine Spende“ gerechnet werden, den der eine oder andere dem Menschen in den Becher gibt. Vielleicht ist für diese Geste „Mitleid“ oder „mit jemandem leiden“ ein zu großes Wort, das alte Wort „Almosen geben“ trifft es besser, aber das ist aus unserm Sprachgebrauch wohl herausgefallen. Im „Almosen“ steckt das griechische Wort ελεημοσύνη, eleemosyne – das gleiche Wort, das der liturgische Ruf „Kyrie, eleison – Herr, erbarme Dich“ beschreibt. „Mitleid“ hat i.d.R. ein Gefälle zwischen den Menschen: der eine gibt, der andere empfängt; der eine hat, der andere nicht; man gibt etwas, eine kleine Gabe, um zumindest kurzfristig und im kleinen einen anderen zu unterstützen. Oder umgekehrt: Aus Mitleid schenkt man dem Opfer, dem Verlierer, das Leben. Und geht dann weg, im besten Fall in der Dankbarkeit, immer noch genug zu haben, vielleicht auch genug zu sein, vor sich selbst, den anderen, vielleicht vor Gott, wer weiß.
Ich weiß nicht, wie es Dir geht, mir ist ein mitleidiger Jesus nicht ganz geheuer.
Da könnte die Rede vom empathischen Jesus sein. Im Vergleich zum Mitleid, das auch ein willkürliches Empfindenmeint, das ich mal habe, mal nicht, ist Empathie die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu verstehen und nachzuempfinden. Eine gute Übersetzung für Empathie wäre „Einfühlungsvermögen“.[1] Ist Mitleid haben sehr von meinem Wollen, meiner Stimmung abhängig und impliziert es ein Gefälle, so ist Empathie ein Habitus, ein Vermögen, das zu meinem Personsein gehört; natürlich bleibe es mir überlassen, ob ich meine Empathie einsetze und aus ihr heraus handle, aber einmal da und eingeübt, ist sie immer da und mir verfügbar, ist sie eine Fähigkeit, die gerade kein Gefälle impliziert, sondern auf ein- und dieselbe Stufe, auf Augenhöhe geschieht, und dies über die „vier Säulen der Empathie“: Wahrnehmung, Verständnis, Resonanz und Antizipation.[2]
Wenn Empathie statt Mitleid der Motor für Jesu Handeln wäre, würde er die ausgemergelten Menschen und ihre Blicke und Gesten wahrnehmen, er würde verstehen oder zumindest verstehen wollen, warum sie sich auf den langen Weg zum „einsamen Ort“ gemacht haben, an dem er mit den Seinen ausruhen und essen wollte, er würde in Resonanz gehen, in einen direkten, offenen und interessierten Austausch mit dem, was die Menschen mitbringen, und er gibt ihnen das, was ihm das Wichtigste ist: Er lehrte sie lange, er beginnt eine lange Predigt – und er wird von der Herrschaft Gottes reden, die schon begonnen hat. Antizipieren meint eine Vorwegnahme dessen, was sich noch ereignen, was sich noch zeigen wird.
Das zweite wie das dritte Städteszenario könnten empathisch verstanden werden – ich schlage Dir den „Bahnsteig“ vor! Die ersten drei Säulen liegen auf der Hand: Wahrnehmung, Verständnis und Resonanz. Die vierte Säule, die „Antizipation“ könnte sein, den Wartenden von Deinen Trauben und den Broten anzubieten, die Du dabei hast – und plötzlich gibt es ein großes Frühstück am Bahnsteig. Aber vielleicht erlebt man sowas nur in Köln.
Bleibt ein Drittes: das Selbstmitgefühl. Es geht nicht um Selbstmitleid, nicht um Empathie für sich selbst! Die drei Elemente des Selbstmitgefühls sind Achtsamkeit, gemeinsames Menschsein und Selbstfreundlichkeit.[3]
Als Möglichkeit für der Einübung des Selbstmitgefühls möchte ich das Szenario im ICE nach dem Spiel der deutschen Mannschaft gegen Schottland nehmen. Um uns herum sitzen die schottischen Fans, die Jugendlichen singen die deutsche „Tor-Hymne“. Selbstmitgefühl beginnt mit dem achtsamen Wahrnehmen meiner selbst. Die Stimmung im Wagen kippt, keiner der schottischen Gäste sagt etwas. Ich spüre mein Unwohlsein, teile eine eigenartige Art von Trauer mit den Schotten im Wagen. In mir wird das gemeinsame Menschsein wach: Natürlich gibt es die Freude der Gewinner, aber von den Jugendlichen hier hat keiner ein Tor geschossen. Natürlich gibt es die Möglichkeit, Verlierer zu demütigen, aber wem bringt das was? Ich will meinen Mund nicht halten, und ich tue in einer Art Selbstfreundlichkeit eher mir als den schottischen Gästen einen Gefallen, gehe zu den vier Jungs und sage als Erstes, sie mögen keine Sorge haben, ich käme nicht wegen eines – sorry – „Anschisses“. Sage ihnen, dass ich weiter vorne zwischen den Schotten sitze und mitbekomme, wie still, traurig sie werden, die doch Gäste bei uns seien, weil sie ständig diese Tor-Hymne hören müssen – sie wird ihnen gestern schwer genug gewesen sein. Und bitte dann die Jungs, sich die Situation mal umgekehrt vorzustellen: die EM fände in Schottland statt, und in Edinburgh schlagen die Schotten die Deutschen mit 2:1. Und auf der Weiterfahrt im Zug, den sie sich als Gäste von hier dort in Schottland teilen, dann diese Schmähungen. Und wie in der Gewaltfreien Kommunikation gelernt, meine konkrete Bitte: Wenn ich sehe, wie es den Gästen geht, dann bitte ich die Jungs darum, dass sie mit Blick auf die Gäste das Singen und Spielen der Hymne lassen.
Eine kluge Unterscheidung
Du merkst den Unterschied zwischen den drei Begriffen des Mitleides, der Empathie und des Selbstmitgefühls? Selbstmitgefühl ist einer der Grundbegriffe buddhistischer Spiritualität, und ehrlich gesag glaube ich, dass an diesem einsamen Ort am See, wo Jesus mit den Jüngern essen und ausruhen wollte, es kein Mitleid und auch kein empathisches Verhalten, sondern wirklich auch das Selbstmitgefühl Jesu war, der achtsam wahrgenommen hat, was die Menschen am Ufer und was seine Jünger im Boot jetzt von ihm brauchen; der den jammernden Hunger nach Brot und Sinn als das im gemeinsamen Menschsein Verbindende aufgegriffen hat; und der dann in Freundlichkeit zu sich selbst und zu seiner Sendung eine lange Predigt begann und lange lehrte.
Da ist kein Gefälle des Mitleids zu sehen, keine übergroße Fähigkeit zur Empathie vorausgesetzt – hier geht es nur darum, achtsam wahrzunehmen, was ist, in den Situationen, in ihnen, in mir; hier geht es nur darum anzunehmen, was uns Menschen genau hier und jetzt gemeinsam ist; hier geht es nur darum, aus einer großen Freundlichkeit zu mir selbstden anderen in ebendieser Freundlichkeit zu begegnen.
Aber was heißt hier „nur“?
Und ich glaube, Jesus kannte das Selbstmitgefühl, ohne den Begriff zu kennen. Ist ja auch schon was!
Amen.
Köln, 11.07.2024
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://de.wikipedia.org/wiki/Empathie [11.06.2024]
[2] vgl. [online] https://studyflix.de/biologie/4-saulen-der-empathie-7017 [11.06.2024]
[3] vgl. für das Folgende das empfehlenswerte Buch Neff, Kristin/Germer, Christopher (2020): Selbstmitgefühl. Das Übungsbuch. Ein bewährter Weg zu Selbstakzeptanz, innerer Stärke und Freundschaft mit sich selbst, 2. Aufl., Freiburg.