17. Sonntag im Jahreskreis: Der Faktencheck Jesu

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
  • –   
  • –   

Daseinsorte des Menschen

Lass mich mit einer kurzen „Standortbestimmung“ meine Gedanken zum Evangelium, zur Brotvermehrungsgeschichte bei Johannes, beginnen. Das kann gelingen, wenn Du Dir ein kurzes Innehalten, ein Stehenbleiben gönnst – und Dir dann z.B. Deine persönliche, Deine berufliche, Dein freund- oder partnerschaftliche, Deine spirituelle Situation vor Augen führst. Nicht, wohin Du möchtest oder woher Du kommst, sondern wo Du stehst, jetzt, gegenwärtig! Von da aus dann fragen: Was davon hat seinen Grund in Dir, Deinem Tun, Deinem Unterlassen, und was davon ist Dir im wahrsten Sinne des Wortes „zugefallen“?

Es gibt einige biblische Bilder für die Spannungen, in denen Dein Standort oder Dein Dasein sich vollzieht. Eugen Drewermann bringt diese Daseinsorte des Menschen in Verbindung mit Gott. Er schreibt: „Leben und Tod, […] Licht und Dunkelheit, […] Tag und Nacht, […] Festland und Meer. All das sind Bilder im Vierten Evangelium, die Daseinsorte beschreiben, je nachdem, wie das Leben uns erscheint, je nach der Wahl, die wir im Grunde für uns getroffen haben, oder – um Johannes genauer wiederzugeben – nach der Wahl, die Gott mit uns getroffen hat, denn nie entscheiden wir uns, meint dieser Evangelist, einfach nach freien Stücken; alles ist da Geschenk aus Begegnung und Begabung: niemand macht sich da selbst, sondern alles vollzieht sich aus Gott oder gar nicht.“[1]

Du siehst: Der Kipppunkt in Drewermanns Ausführung ist das „je nachdem, wie das Leben uns erscheint, je nach der Wahl, die wir im Grunde für uns getroffen haben“. M.a.W.: ob Leben oder Tod, ob Licht oder Dunkelheit, ob Tag oder Nacht, ob Festland oder Meer – Du bist es, der Deinen „Daseinsort“ definiert oder, um es philosophisch einzuordnen, der Deinen „Daseinsort“ konstruiert.

» 'Versuchen', 'auf die Probe stellen' - das ist, biblisch geredet, die Art Gottes, einen Menschen dahin zu bringen, dass er sieht, woran er mit sich selbst ist. Solch eine Krise ist ein Augenblick, in dem wir spüren, dass wir aus dem gesamten Alten und Tradierten und Gewohnten herausschreiten müssen, wenn es noch Zukunft geben soll. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 273.

Faktencheck vs. Milchmädchenrechnung

Das mag auch für die fünftausend Männer gelten, die auf der Anhöhe des Berges nahe dem Ufer des Sees Genezareth bei Tiberias saßen, weil sie Jesus seine Zeichen haben wirken sehen. Sie wollten „mehr“ – i.S. v. „multum“: mehr sehen, mehr hören, mehr direkte Nähe, mehr Dabeisein. Sie kamen mit vielerlei Hunger, und sie hofften, dass Jesus ihnen diesen vielerlei Hunger stillen möge.

Jesus macht zuerst eine Milchmädchenrechnung auf. „Woher sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben?“, fragt er den Philippus, der sofort einknickt: „Brot für zweihundert Denare reicht nicht aus, wenn jeder von ihnen auch nur ein kleines Stück bekommen soll.“ Das, was sie an Brot, an Geld haben, genügt nicht. Es braucht „mehr“ – jetzt: an Brot! Das, was Jesus und die Seinen von sich aus geben können, ist und bleibt zu wenig. Alles vom anderen zu erwarten, wird den Hunger der Menschen kein bisschen stillen.

Dann bringt Andreas den Jungen mit den fünf Broten und den zwei Fischen. Und hier setzt der Faktencheck Jesu an. Mit dem wenigen, was der Junge bringt, beginnt Jesus. Er spricht das Dankgebet und teilt aus. Die anderen sitzen im Gras – und sie tun vermutlich dasselbe. Aus dem „multum“ wird ein „magis“, ein „Mehr an Leben“: Sie steigen aus dem gewohnten Muster aus, alles vom anderen her zu erwarten, und beginnen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, gemeinsam mit denen um sie herum – denn darin, nicht in der Anzahl der Brote, liegt der Menschen Reichtum! Drewermann kommentiert: „‘Versuchen‘, ‚auf die Probe stellen‘ – das ist, biblisch geredet, die Art Gottes, einen Menschen dahin zu bringen, dass er sieht, woran er mit sich selbst ist. Solch eine Krise ist ein Augenblick, in dem wir spüren, dass wir aus dem gesamten Alten und Tradierten und Gewohnten herausschreiten müssen, wenn es noch Zukunft geben soll.“[2]

» Man kann gleichzeitig Sklave sein und dennoch wohlversorgt; man kann in fremder Menschen Hand gegeben sein und sich gerade dadurch wie gesichert, wie sorgenfrei fühlen. Die Gefahr liegt darin, sich an diesen Zustand so sehr zu gewöhnen, dass jede andere Möglichkeit, jede Alternative, zu leben, als ein zu hohes Risiko empfunden wird. Mose hat sein Volk gelehrt, gerade dieses Wagnis seiner Freiheit einzugehen: lieber ins Ungewisse , hinein in die Wüste, lieber ins Niemandsland, hinein ins Noch-nie-Begangene, als sich weiter zu verhocken in einem Leben, das wie gestohlen, wie weggenommen ist, oder dass umgekehrt wie eine Prämie für Bravheit und Wohlgefälligkeit empfunden wird. Pessah, das bedeutet den Mut zur Freiheit, das bedeutet das Ergreifen eines eigenen Daseins für ein ganzes Volk. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 267f.

An die Stelle der Brote – Dein Leben

Du kannst die Brotvermehrung auch als Erzählung über das Wunder Deines Lebens, Deines Standortes, Deines Daseinsortes lesen. Dann, in dem Moment, wo es nicht mehr um den Hunger nach Brot, sondern den Hunger nach Leben, nach Lebendigkeit geht. Es kann passieren, dass Deine zu Beginn erbetene Standortbestimmung in tiefe Fahrwasser kommt; es kann passieren, dass Du Dich am „satten“ Leben freust, Dir aber klar wird, wie sehr Du Dich dafür „verkauft“ hast. Um im biblischen Bild zu bleiben: Es kann sein, dass Du vielleicht in der Lage bist, Pyramiden zu bauen, dafür aber den Preis der Knute des Pharaos zahlen musst. Ein letztes Mal für heute Eugen Drewermann: „Man kann gleichzeitig Sklave sein und dennoch wohlversorgt; man kann in fremder Menschen Hand gegeben sein und sich gerade dadurch wie gesichert, wie sorgenfrei fühlen. Die Gefahr liegt darin, sich an diesen Zustand so sehr zu gewöhnen, dass jede andere Möglichkeit, jede Alternative, zu leben, als ein zu hohes Risiko empfunden wird. Mose hat sein Volk gelehrt, gerade dieses Wagnis seiner Freiheit einzugehen: lieber ins Ungewisse , hinein in die Wüste, lieber ins Niemandsland, hinein ins Noch-nie-Begangene, als sich weiter zu verhocken in einem Leben, das wie gestohlen, wie weggenommen ist, oder dass umgekehrt wie eine Prämie für Bravheit und Wohlgefälligkeit empfunden wird. Pessah, das bedeutet den Mut zur Freiheit, das bedeutet das Ergreifen eines eigenen Daseins für ein ganzes Volk.“[3]

» Lasst uns dem Leben trauen, weil diese Nacht das Licht bringen muss. Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht alleine zu leben haben, sondern Gott es mit uns lebt. «
Delp, Alfred (1984): Vigil vor Weihnachten, in: Bleistein, Roman (Hrsg.): Alfred Delp. Gesammelte Schriften, Bd.4: Aus dem Gefängnis, Frankfurt/Main, 195.

Auch das gehört zum Faktencheck Jesu – und es mag für diesen Sonntag und sein Evangelium wichtiger sein als die 5000 Männer auf dem grasbewachsenen Hügel, als die Griffe in die Taschen und die teilenden Hände, als die Idylle der gemeinsam Essenden, beinahe könnte man sagen picknickenden Menge. Das alles ist – damals wie heute – Folge! Die Ursache, die all dem zugrunde liegt, ist der betrachtende Rückzug Jesu auf den Berg, ist das Gespür für die Probe, für die Versuchung, alles von andren zu erwarten oder auf die eigenen zugewachsenen und gegebenen Gaben zu vertrauen, den Mut zum „eigen-ständigen“, zum „selbst-ständigen“ Leben zu haben, das Gott mit uns lebt. „Lasst uns dem Leben trauen, weil Gott es mit uns lebt“, schrieb P. Alfred Delp SJ.[4] Freiheit und Selbstbestimmung – vielleicht beides vor Gott – wirst Du nicht gewinnen, wenn Du Dich zum Sklaven machst, wenn Du nach Brot fragst und es von anderen erwartest. Freiheit und Selbstbestimmung setzen einen Faktencheck voraus; und anders als Standortbestimmung oder Beschreibung der Daseinsorte setzt der Faktencheck eben bei den Fakten an, beim Leben, und nicht bei seinen Deutungen. Es braucht den Rückzug auf den „Berg“, es braucht die Stille der Meditation und des Gebetes, um die leisen Fakten zu hören, die von den lauten Konstruktionen und Deutungen oft übertönt werden. Und dann lass es die Fakten, das Leben sein, auf die Du baust – sie bleiben, auch wenn Deine Konstruktionen und Deutungen zerbrechen. Wie Delp sagte: „Lasst uns dem Leben trauen“ – und dann erst beginne mit den Konstruktionen und Deutungen, ohne sie wirst Du ja kaum auskommen können. Wie gesagt: „’Versuchen‘, ‚auf die Probe stellen‘ – das ist, biblisch geredet, die Art Gottes, einen Menschen dahin zu bringen, dass er sieht, woran er mit sich selbst ist. Solch eine Krise ist ein Augenblick, in dem wir spüren, dass wir aus dem gesamten Alten und Tradierten und Gewohnten herausschreiten müssen, wenn es noch Zukunft geben soll.“[5]

Eine gute Zeit Dir, eine gute Gegenwart, und eine gute Zukunft, wo immer sie sich ihren Daseinsort sucht.

Amen.

Köln, 14.07.2024
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 267.

[2] a.a.O., 273.

[3] a.a.O., 267f.

[4] Delp, Alfred (1984): Vigil vor Weihnachten, in: Bleistein, Roman (Hrsg.): Alfred Delp. Gesammelte Schriften, Bd.4: Aus dem Gefängnis, Frankfurt/Main, 195.

[5] Vgl. Anm. 2.