Freundschaft – Leben in der Gegenwart und auf Augenhöhe
Je älter ich werde, umso mehr berührt mich das Wesen der Freundschaft, und berührt mich das Miteinander mit denen, die mir Freund und Freundin sind bzw. denen ich Freund sein darf. Neben vielen Selbstverständlichkeiten einer Freundschaft sind mir zwei Grundzüge wichtig:
Zunehmend zum einen, dass in der Freundschaft die Gegenwart mitsammen gelebt, geteilt wird – daraus folgt, dass ich mich aus Freundschaften auch verabschiede, wenn sie zwar in der Vergangenheit gelebt wurden und wenig Aussicht auf Gegenwart und Zukunft haben. Das „Weißt du noch…“ oder das „Was ist eigentlich aus … geworden“ sind Sätze, die mir Unbehagen bereiten.
Zum zweiten das Moment der „Augenhöhe“. Um mit anderen Menschen in Freundschaft zu leben, bedarf es sowohl der je eigenen Stimme als auch der gleichen Augenhöhe. Freundschaft kann in der Definition von Hartmut Rosa als horizontale Dimension der Resonanzbeziehung[1] bezeichnet werden.
Dieses Teilen der Gegenwart, dieses vertrauensvolle Miteinander der Freundschaft auf Augenhöhe hat Jesus wohl vor Augen, wenn er im heutigen Evangelium seine Jünger anspricht und fragt: „Wenn einer von Euch einen Freund hat und um Mitternacht zu ihm geht und sagt: Freund, leih mir drei Brote, denn einer meiner Freunde, der auf Reisen ist, ist zu mir gekommen, und ich habe ihm nichts anzubieten!, wird der Mann dann drinnen antworten: Lass mich in Ruhe, die Tür ist verschlossen, und meine Kinder schlafen bei mir, ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben? Ich sage euch: Wenn er schon nicht deswegen aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seiner Zudringlichkeit aufstehen und ihm geben, was er braucht“ (Lk 11,5-8).
Freundschaft als Resonanzbeziehung
Das Verständnis von Resonanz, die Momente des Teilens der Gegenwart und der Kontakt auf Augenhöhe machen im Evangelium – und auch in meinem, in Ihrem Alltag – deutlich, was Freundschaft heute heißen kann.
Noch einmal Hartmut Rosa: „Resonanz ist keine Echo-, sondern eine Antwortbeziehung; sie setzt voraus, dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen, und dies ist nur dort möglich, wo starke Wertungen berührt werden. Resonanz impliziert ein Moment konstitutiver Unverfügbarkeit. Resonanzbeziehungen setzen voraus, dass Subjekt und Welt hinreichend geschlossen bzw. konsistent sind, um mit je eigener Stimme zu sprechen, und offen genug, um sich affizieren oder erreichen zu lassen.“[2]
Das Übertragen dieser Definition auf das Geschehen im Evangelium überlasse ich Ihnen. Auf eines möchte ich hinweisen: „Echobeziehung“ käme dem Bezahlen des Brotes oder einem Kauf am Nachtkiosk gleich; „Antwortbeziehung“ heißt, die Not des anderen sehen oder hören, verstehen, lindern und lösen. Und das in keinem „Herr-und-Knecht-Modus“, sondern auf Augenhöhe, „in aller Freundschaft“.[3]
Freundschaft in der Müdigkeitsgesellschaft
Nun ist es nicht an der Tagesordnung, dass ein Freund um Mitternacht mich weckt, weil ein anderer seiner Freunde bei im angekommen sei und er nichts habe, was er ihm anbieten und vorsetzen könne. So gehe ich auf eine kleine soziologische Suche, was denn heute so ein quasi-gebotener, die Gegenwart einschließender und auf Augenhöhe geschehender Freundschaftsdienst sein könnte.
Ich stolpere über den Begriff der „Müdigkeitsgesellschaft“, den der deutsch-koreanische Soziologie Byung-Chul Han in einem gleichnamigen Essay bereits 2010 beschrieben hat.[4] Er liefert eine Pathologie des beginnenden 21. Jahrhunderts: „Das beginnende 21. Jahrhundert ist, pathologisch gesehen, weder bakteriell noch viral, sondern neuronal bestimmt. Neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder Burnout-Syndrom (BS) bestimmen die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologisch Anderen, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind. So entziehen sie sich jeder immunologischen Technik, die darauf angelegt ist, die Negativität des Fremden abzuwehren.“[5]
War es vor der Gegenwart das „Fremde“, das von außen Kommende, das den Menschen krank macht und quält – wie etwa der Adler, der dem an den Berg geketteten Prometheus die Leber wegfraß -, so ist es jetzt das dem Menschen „Eigene“, das in seinem Inneren wohnende, seine Möglichkeiten und seine Potenz, die ihn in Depression, Burnout und in ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hypersyndrom führen. Die positiven Möglichkeiten sind zu groß, entgrenzen, führen in eine Übermüdung des Menschen und der Gesellschaft. Prometheus schlägt und quält sich selbst. Es ist beinahe paradox: Die Entgrenzung der globalisierten Welt in allen ihren Bereichen – in allen ihren Resonanzachsen – führt zur Überforderung, zur Müdigkeit, und pflockt gerade wegen der Entgrenzung ganz neue Grenzpfähle in das Leben der Menschen.
Der Freundschaftsdienst: „Nicht tun“, nicht „Nichts tun“!
In dieser Situation stellt Byung-Chul Han klar: “Es gibt zwei Formen der Potenz. Die positive Potenz ist die Potenz, etwas zu tun. Die negative Potenz ist dagegen die Potenz, nicht zu tun, um mit Nietzsche zu sprechen, Nein zu sagen. Diese negative Potenz unterscheidet sich aber von der bloßen Impotenz, der Unfähigkeit, etwas zu tun. Die Impotenz ist lediglich das Gegenteil der positiven Potenz. Sie ist insofern selbst positiv, als sie an etwas gebunden ist. Sie vermag nämlich etwas nicht. Die negative Potenz überschreitet diese Positivität, die an etwas gefesselt ist. Sie ist eine Potenz, nicht zu tun.“[6]
Im Freundschaftsdienst geht es nicht mehr so sehr um drei Brote, um die ich den Freund bitte, weil ein anderer Freund bei mir zu Gast ist. Vielmehr kann es gegenwärtig und auf Augenhöhe ein Freundschaftsdienst sein, sich gegenseitig zu ermutigen, Dinge, Handlungen, Unternehmungen eben nicht zu tun, um der selbstverschuldeten Müdigkeit ein Schnäppchen zu schlagen.
Mir scheint, es ist ein völlig neues Bild von Freundschaft, sich in dieser „negativen Potenz“ zu begegnen und das nicht-zu gegenwärtig und auf Augenhöhe, miteinander und füreinander zu unterstützen, um so aller Positivität (und das ist die Crux im Fühlen), die an etwas gefesselt ist – an Prometheus am Berg sei erinnert – um des Ausruhens und des Wachseins zu entrinnen.
Freundschaft als Raum der Kontemplation
Ein Letztes: Byung-Chul Han praktiziert Zen, von ihm ist die „Philosophie des Zen-Buddhismus“ 2002 bei Reclam erschienen.[7] Ein Besuch bei Freunden und Freundinnen, der Besuch eines Freundes, einer Freundin kann in der Müdigkeitsgesellschaft jenseits der „positiven Potenz“ (etwas zu tun) ganz im Geist der „negativen Potenz“ (etwas nicht zu tun) stehen, im Zeichen des Ausruhens. Es gilt, sich gemeinsam anzuschauen, als wäre man selbst (oder der Freund/die Freundin) der an den Berg gekettete Prometheus, Und es gilt, die Selbstverletzungen zu benennen oder zu erfragen. Der Freund, die Freundin selbst wird zum Gegenstand der Betrachtung, der Kontemplation. Noch einmal Byung-Chul Han: „Die Negativität des nicht-zu ist auch ein Wesenszug der Kontemplation. In der Zen-Meditation z.B. wird versucht, die reine Negativität des nicht-zu, d.h. die Leere zu erreichen, indem man sich von dem andrängenden, sich aufdrängenden Etwas befreit. Sie ist ein äußerst aktiver Vorgang, also alles andere als Passivität. Sie ist eine Übung, in sich einen Souveränitätspunkt zu erreichen, Mitte zu sein.“[8]
Vielleicht kann ich mir so meine Haltung erklären, Freundschaften mit dem Teilen von Gegenwart und der Augenhöhe zu erklären. Es geht um diese negative Potenz, die sich auf die Gegenwart bezieht ein hohes Vertrautsein voraussetzt, um aus ihr in einem Zustand des nicht-zu auszuharren.
In diesem Sine freue ich mich, wenn der Freund, die Freundin des Abends – ok, es muss nicht Mitternacht sein – an die Tür klopft und seine/ihre Ermüdung, seine/ihre Bedürftigkeit mitbringt; und noch mehr freue ich mich, dass ich weiß, wo ich hingehen kann, jetzt, gegenwärtig, auf Augenhöhe, um vom Freund ermutigt zu werden, gerade das nicht-zu zu wählen, um wach zu bleiben.
Amen.
Köln 20.07.2022
Harald Klein
[1]:„In der kurzen Passage zur Funktion des Ritus habe ich […] vorgeschlagen, mindestens drei Dimensionen der Welt- und damit der Resonanzbeziehung zu unterscheiden, nämlich eine horizontale Dimension, welche die sozialen Beziehungen zu anderen Menschen, also etwa Freundschaften oder Intimbeziehungen, oder auch politische Beziehungen umfasst, eine (etwas umständlich) als diagonal bezeichnete Dimension der Beziehungen zur Dingwelt und schließlich die Dimension der Beziehung zur Welt, zum Dasein oder zum Leben als Ganzem, also zur Welt als einer Totalität, die wir als vertikale Dimension bestimmen können, weil das empfundene Gegenüber dabei als über das Individuum hinausgehend erfahren wird. In vertikalen Resonanzerfahrungen erhält gewissermaßen die Welt selbst eine Stimme.“ (Rosa, Harmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 331.)
[2] Rosa, Harmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 298.
[3] Wenngleich diese Fernsehreihe der jungen Ärzte in der ARD vom aufregenden Klinikalltag fiktiv und seriell zu erzählen vermag, ist doch das Leben in aller Freundschaft mit den Freundinnen und Freunden in der Wirklichkeit angesiedelt und jenseits aller erwartbaren Folgen. Freundschaft lebt von Riten, von Episoden (manchmal von auch von Eskapaden), aber niemals von Serien.
[4] Byung-Chul Han (2010): Die Müdigkeitsgesellschaft, Berlin.
[5] a.a.O., 7; wie gesagt, der Essay stammt von 2010; zehn Jahre später hätte der Autor angesichts der Covid-19-Pandemie zumindest ein Sowohl-als auch beschrieben. Allemal hat die beschriebene Form der „Infarkte“ in hohem Maße zugenommen!
[6] a.a.O., 46.
[7] Byung-Chul Han (2002): Philosophie des Zen-Buddhismus, Stuttgart.
[8] a.a.O., 47.