18. Sonntag im Jahreskreis: Ich bin!

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Vier Wochen lang harter Tobak

Weil das Markus-Evangelium nicht genug Kapitel für ein ganzes Lesejahr vorhält, wird in den Sommermonaten für fünf Wochen eine einzige Rede Jesu aus dem Johannes-Evangelium, die sog. „Brot-Rede“ im Gottesdienst (und davor die Hinführung zu dieser Rede, die „Brotvermehrung“ am letzten Sonntag) gelesen. Für die Zuhörenden wie für die Predigenden ist das harter Tobak, denn inhaltlich wird über die in vier Teile zerrissene Rede wenig Neues gesagt, dagegen wird einiges immer und immer wiederholt. Der Eindruck könnte entstehen, dass Du das alles schon letzten oder vorletzten Sonntag gehört hast. Und es sind die ganz kleinen Nuancen, oft nur Kleinigkeiten im Text, die diese Rede Jesu im Johannes-Evangelium, die seine „Selbst-Darstellung im Wort“ – Du darfst diese „Selbst-Darstellung“ doppelt wörtlich nehmen – in diesem Evangelium so wertvoll machen. Die Hinführung zur Brot-Rede war am vergangenen Sonntag die Erzählung von der Brotvermehrung. Und heute geht es mit der Rede los, und damit, dass Jesus die Menschen zur Rede stellt – Du darfst auch dieses „zur Rede stellen“ doppelt wörtlich nehmen. Für das Verstehen dessen, was geschieht, ist die Kenntnis dieser Rede in Joh 6,24-35 wichtig, Du findest das Evangelium hier.

» Die Krise des religiösen Bewusstseins am Ende des 20. / Anfang des 21. Jahrhunderts liegt wesentlich in dieser Polarisierung eines wundersüchtigen Aberglaubens auf der einen Seite und eines bis zum Magieersatz geratenen Pragmatismus oder Unglaubens auf der anderen Seite begründet. Dazwischen, tiefer als der See Gennesaret, tut sich die Sinnlosigkeit unter den Füßen der heutigen Menschen auf. Sie sollen unter kirchlichem Dogmenzwang an einen Gott glauben, an den sie nicht glauben können, und wenn sie aufhören, an ihn zu glauben, wissen sie gar nicht mehr, worauf sie ihr Vertrauen werfen könnten. «
Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 283.

Warum überhaupt Jesus suchen – oder eine andere „Gottheit“?

Die Menschen vom Berg, die abends zuvor noch auf wunderbare Weise ihren Hunger gesättigt bekamen – oder sollte man besser sagen: auf wunderbare Weise sich gegenseitig den Hunger sättigten? – vermissen Jesus und seine Jünger am See von Galiläa, steigen ins Boot, fahren ans gegenüberliegende Ufer nach Kafarnaum und suchen sie, suchen vor allem Jesus. Das zweite Mal an zwei Tagen sind sie hinter Jesus her. Und sie finden ihn, nicht wissend, wie er dorthin gekommen ist.

Jesus fragt nicht einmal, warum sie ich suchen, er mutmaßt stattdessen: „Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr satt geworden seid.“ Und fügt hinzu: „Müht Euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn Euch geben wird.“

Da ist sie, die Nuance, die Kleinigkeit, die mir diese Brot-Rede und ihren Anfang so wertvoll macht. Es geht um die Motivation der Menschen, die mit Jesus in Berührung kamen, ihn zu suchen. Und hier ist „Jesus“ austauschbar mit anderen Gottheiten anderer Religionen, vielleicht sogar mit Menschen, die Du auf einen Sockel hebst oder denen ich beinahe anbetend begegne. Was ist Dein, was ist mein Motiv, was meine Motivation, hinter Jesus her zu sein – oder hinter jemand anderem? Warum suche ich ihn, sie, Dich, jemand anderen, etwas anderes? Welcher Hunger treibt Dich, welche Ahnung von Sättigung lockt mich?

Suchen, sich ausrichten – schon wieder richtig doppeldeutig –, entscheiden und dann in dieser Entschiedenheit leben ist Grundzug allen suchenden, allen religiösen Lebens. Eugen Drewermann schreibt in seinem Kommentar zum Johannes-Evangelium: „Die Krise des religiösen Bewusstseins am Ende des 20. / Anfang des 21. Jahrhunderts liegt wesentlich in dieser Polarisierung eines wundersüchtigen Aberglaubens auf der einen Seite und eines bis zum Magieersatz geratenen Pragmatismus oder Unglaubens auf der anderen Seite begründet. Dazwischen, tiefer als der See Gennesaret, tut sich die Sinnlosigkeit unter den Füßen der heutigen Menschen auf. Sie sollen unter kirchlichem Dogmenzwang an einen Gott glauben, an den sie nicht glauben können, und wenn sie aufhören, an ihn zu glauben, wissen sie gar nicht mehr, worauf sie ihr Vertrauen werfen könnten.“[1] Was macht satt, wer sättigt, um welchen Hunger geht es?

Wundersüchtiger Aberglauben, Pragmatismus, Magieersatz – wie groß ist Deine Motivation, „hinter jemand her“ zu sein? Und wem oder was hielt/hält diese Motivation alles stand bzw. wird sie standhalten können? Ob es um die „richtige“ Religion geht, ob ein immer wieder neues Anfangen von Neuem, ob ein Bleiben beim Gewohnten oder was auch immer: Ich habe ein Wort aus Theodor W. Adornos „Minima Moralia. Reflexionen aus einem beschädigten Leben“ von 1951 im Sinn, das ich seit einiger Zeit mir trage und das ich Dir in der Frage nach Deiner religiösen Motivation – und nicht nur dieser – gerne mitgebe. Adorno schreibt: „Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“[2] Das wäre der Anfang: Dich in Deiner Motivation nicht für dumm verkaufen zu lassen oder dich selbst für dumm zu verkaufen!

» Es gibt kein richtiges Leben im falschen. «
Adorno, Theodor (1951): Asyl für Obdachlose, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main, 42.

Die Selbst-Darstellung Jesu

Eine zweite Kleinigkeit – die Exegeten mögen mir verziehen – ist das, was ich weiter oben die „Selbst-Darstellung“ Jesu nannte. Jesus nimmt Bezug auf die sog. Brotvermehrung am Berg (vielleicht war sie „nur“  eine Herzenserweiterung, wer weiß?) Satt geworden wie das jüdische Volk in der Wüste – durch das Manna, das Himmelsbrot. Das konnte nicht aufbewahrt werden, es verdarb nach einem Tag, Israel musste auf den kommenden Morgen hoffen. Und im Disput mit denen, die ihn suchen, die nach dem unvergänglichen Brot des Lebens verlangen, verkündet Jesus: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben“ (Joh 6,35).

Wieder ist alles in der Gegenwart, im Präsenz ausgedrückt. Das Erleben der Vergangenheit kann den gegenwärtigen Hunger nicht stillen; der zukünftige Hunger ist in Farben ausmalbar, aber er quält noch nicht. Wenn man „Motivation“ und „Hunger“ zusammenbringt, dann geht es um den gegenwärtigen Hunger, der nur gegenwärtig zu stillen ist. „Müht Euch nicht ab für die Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt, und die der Menschensohn Euch geben wird!“ (Joh 6,27) – jetzt, im Moment, wird er sie Euch geben.

Für den, für die, die hinter Jesus – oder einer anderen Gottheit – her ist, soll immer der Moment, das Jetzt, die Gegenwart gelten. Nicht mehr das vergangene Leben und das Woher, nicht das zukünftige Leben und das Wohin, sondern das gegenwärtige Jetzt mit seinen fragenden Hinweisen des Wo, mit Wem, Warum, Wie? Auch mit Blick auf die eigene Vergangenheit und die mögliche Zukunft gilt Adornos wohl bekanntestes Wort: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“[3]

» Mein Atem

In meinen Tiefträumen
weint die Erde
Blut

Sterne
lächeln in meinen Augen

Kommen Kinder zu mir
mit vielfältigen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich

Die Vergangenheit
hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt

Mein Atem heißt
jetzt «
In: Ausländer, Rose (1981): Mein Atem heißt jetzt, Frankfurt/Main, 85.

Zwei kleine Nuancen

Wie anfangs gesagt: Wir stehen am Beginn von vier Predigten zu einer Rede, in der Jesus in den Worten des Evangelisten Johannes sagt, wer er sei. Den Anfang machen zwei kleine Nuancen: Die Frage nach der Motivation der Menschen, hinter Jesus her zu sein und ihn zu suchen; und der Appell Jesu an die Gegenwart: „Ich bin das Brot des Lebens“ – wenn auch in dem Sinne, dass er es von Anfang an war und künftighin sein wird. Erfahren, entdecken kannst Du es nur in der Gegenwart.

Eleanor Roosevelt (1884-1962), Menschenrechtsaktivistin und Ehefrau des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, wird das Bonmot zugeschrieben: „Yesterday is history. Tomorrow is a mystery. And today? Today is a gift. That’s why we call it the present.“ Das haut mit unserer Rechtschreibung nicht hin, aber mit der Aussprache. Die Gegenwart ist ein Geschenk, der Moment ist ein Präsent, in dem unsere Motivation zur Suche und zur Nachfolge sich zeigt und in dem umgekehrt der Hunger, der uns suchen lässt, gestillt werden kann.

Wie Eugen Drewermann weiter oben anmahnte: kein wundersüchtiger Aberglauben, kein Pragmatismus, kein Magieersatz, kein kirchlicher Dogmenzwang – stattdessen eine tiefe Sättigung des Hungers im Menschen im Moment, in der Gegenwart. Die Macht der anderen und die eigene Ohnmacht vermag Dich, vermag mich dumm zu machen. Wachsein hilft, und ein klares Motiv, das trägt und aushalten macht. Es gibt, sagt Adorno, kein richtiges Leben im falschen.

Amen.

Köln, 14.07.2024
Harald Klein

[1] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 283.

[2] Adorno, Theodor (1951): Hans-Guck-in-die-Luft, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main, 67.

[3] Adorno, Theodor (1951): Asyl für Obdachlose, in: ders.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/Main, 42.