18. Sonntag im Jahreskreis – Wir haben es satt!

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Bilder statt Worte

Ich stelle mir einen See vor, abgelegen, ruhig, an dessen Nordwestspitze ein kleiner Ort liegt, wohl nur schwer zugänglich, mit wenigen Häusern. Und ich stelle mir vor, ich wollte um meiner Ruhe und um meiner Meditation Willen diesen Ort aufsuchen, um mich von Lage und Stille und Einsamkeit einfangen, umfangen zu lassen. Mit dem Boot fahre ich über den See, zugegeben, nicht allein, ich bin mit Jesus in einem Boot, der dasselbe sucht – und schon die Fahrt lässt Sie spüren, wie alles Überflüssige und Unruhige am Ufer zurückbleibt.

Je näher wir dem Ort kommen, um so deutlicher sehen wir eine Menge von Menschen, die auf Jesus wartet, und seine Jünger, die, die zu ihm gehören, sind mitten drin, sind dabei. Was jetzt?

Das erste Wunder ist doch, dass Jesus an diesem mit Menschen so vollem Ort überhaupt anlegt, uns aussteigen lässt, und das zweite Wunder ist, dass er nicht verärgert, enttäuscht ist, schließlich ist es allemal vorbei mit Ruhe und Meditation, sondern dass er Mitleid mit diesen Menschen hat.

Die Menschen haben es satt

In diesem Bild bleibend, schaue ich zurück auf meine vergangenen Tage. Egal, ob ich zum Wochenendbesuch in einer Bauernschaft in Freckenhorst im Münsterland war, ob ich mit zwei Gefährten einen kurzen Urlaub in Maulbronn, Hesse lesend, verbracht habe, ob wir uns in der Glaubensgruppe miteinander austauschten, ob ich in Köln mit Nachbarn und Nachbarinnen redete: sobald das Thema „Kirche“ kommt, ist die Tendenz klar: „Wir haben es satt.“ Menschen aus meinem engsten und vertrautesten Kreis treten aus der Kirche aus – ihnen fehlt tragende Anbindung, ihnen fehlen Antworten und Impulse, die ihnen helfen, ihr Leben zu deuten, zu verstehen, zu gestalten. Und sie verstehen nicht mehr, was von amtlicher Seite getan („Segnung des Gitters vor dem Kölner Dom“) und gelehrt („Instruktion zur pastoralen Umkehr der Pfarreien“) wird. Die wohl spannendste Frage der letzten Tage in diesem Zusammenhang war: „Was glaubst Du, gibt es einen dritten Weg zwischen selbstverkrümmender Demut und Austritt aus der Kirche?“ Wenn ich recht nachdenke: Bindungen, in denen der Glaube gelebt wird und lebendig erfahren wird („fides qua creditur“),“ kennen die jüngeren Generationen wirklich kaum noch. Und Menschen der jüngeren Genrationen zu finden, die hinter dem Inhalt des Glaubens („fides quae creditur“) stehen bzw. überhaupt noch danach fragen, bilden eine deutliche Minderzahl, meist in Gruppierungen, die mir selbst nicht geheuer sind. Im Kreise der Fragenden und Interessierten sind es dann vor allem vatikanische Ansagen wie die „Instruktion zur pastoralen Umkehr der Pfarrgemeinde im Dienst der missionarischen Sendung der Kirche“ und ihr priesterzentriertes, klerikales Leitungsbild für Pfarrgemeinden, die es zu dieser Haltung kommen lässt: Oder das „Segnet Menschen statt Gitter“ der Gruppierung Maria 2.0 vor dem Kölner Dom. „Wir haben es satt!“. – Da stehen ich jetzt am Rand des Sees, und Jesus und mir, uns beiden „Aussteigern“ schlägt genau diese Haltung entgegen, mit voller Wucht.

 

Die Menschen haben Hunger!

Wie reagieren? Zustimmung zu dieser Kritik käme mir einer Nestbeschmutzung gleich, obwohl es mich drängt. Leugnen kann ich sie nicht, dafür ist die Wucht der Meinung bei denen am Ufer, aber auch bei mir selbst zu groß. Und dabei sind es nicht einmal in erster Linie Fragen nach Leitungsformen, nach Zuständigkeiten und Gleichberechtigungen, die zum „Wir haben es satt“ führen. Gleichzeitig zum „Wir haben es satt!“ ist ein „Hunger nach Spiritualität“ spürbar und erlebbar. Mir scheint es vielmehr diese Sehnsucht nach einem das Leben deutenden und begleitenden Geist zu sein, der Hunger nach Spiritualität, der die Menschen im Bild an das Ufer des Sees getrieben hat, der der Menschen (noch) in der Kirche hält. Was sie satthaben, ist, dass dieser Hunger nicht mehr gestillt wird, dass man kaum noch – und vor allem gemeinsam – nach nahrhafter Speise sucht, sondern sich mehr und mehr von den Vertretern der Glaubenslehre anhören muss, was zu glauben sei. Die Weisen, den Glauben zu leben, zu teilen, am eigenen Leib zu erfahren, alles, was satt machten kann, droht zu verkommen und auszusterben. Ich nenne das den „Klimawandel in der Kirche und seine Folgen“. Die Menschen haben Hunger, geistlichen, spirituellen Hunger – und sie erleben mehr oder weniger ein „Schick die Menschen weg!“ der „Jünger“. Das Wort Jesu „Sie brauchen nicht wegzugehen – gebt ihr ihnen zu essen“ bekommt einen ganz neuen Klang.

Der dritte Weg – das mich Nährende in der Lebenswelt suchen

Vielleicht liegt in dieser Aufforderung Jesu an die Jünger das ganze Problem! Die Jünger Jesu, die mitten unter den Menschen am See stehen, haben nichts! Zumindest nichts, was die Menschen von heute wirklich satt macht. OK, fünf Brote und zwei Fische. Vielleicht noch genug für sich selber, aber selbst das glaube ich nicht. Ich schaue mir diesen Satz in unserem Heute an: „Wir Jünger haben nichts, was uns, geschweige denn andere, wirklich satt macht.“

Was bleibt? Zum Himmel blicken, den Lobpreis sprechen, das, was man hat, zerbrechen und teilen – das hatte zur Folge, dass 2019 etwa eine Viertelmillion Menschen der Kirche den Rücken gekehrt hat. So einfach ist es eben nicht, zu viele Regeln und Verbote stehen dem entgegen, und die Feier der Eucharistie mag liturgisch Quelle und Höhepunkt des christlichen Glaubens sein, lebensweltlich ist sie es schon lange nicht mehr.  Was „wir“ offensichtlich haben, macht nicht (mehr) satt, stillt den Hunger nicht (mehr)!

Bleibt eine einzige Alternative: Entweder hoffen, dass in der verfassten Kirche am Rande des Sees anderes als die üblichen fünf Brote und zwei Fische von den Jüngern entdeckt wird. Oder das tun, was im Anschluss an die Erzählung von der Brotvermehrung im Matthäusevangelium geschildert wird. Da fordert Jesus die Jünger auf, ins Boot zu steigen und ans andere Ufer vorauszufahren. Er schickt die Leute weg, geht auf den Berg ins einsame Gebet. Das Boot wird auf dem See hin- und her geworfen, denn sie haben Gegenwind! Und dann kommt Jesus auf dem Wasser auf sie zu, sie glauben, es sei ein Gespenst, nur Petrus lässt sich von Jesus aus dem Boot locken: „Herr, wenn Du es bist, so befiehlt, dass ich auf dem Wasser zu dir komme.“ Er traut den Worten Jesu: „Habt Vertrauen, ich bin es nicht, fürchtet euch nicht.“ Sie kennen das Ende: Solange Petrus Jesus im Blick hat, kann er auf dem Wasser gehen. Die Wucht des Windes spürend, geht er unter, und Jesus zieht ihn an der Hand aus dem Wasser, beide steigen ins Boot.

Das scheint mir der gesuchte dritte Weg zu sein. Ins Boot steigen, ohne große kirchliche Rückendeckung, weil Jesus uns treibt und lockt. Ins Boot steigen und den Gegenwind aushalten, darauf vertrauend, dass Jesus uns entgegenkommt, auch wenn wir ihn nicht gleich erkennen oder ihn im Vergleich zum Gewohnten „gespenstisch“ erleben. Und in all dem, was begegnet sein „Habt Vertrauen. Ich bin es. Fürchtet euch nicht!“ zu hören. Der Ort dafür ist nicht der See, ist auch nicht das Kirchengebäude, sondern ist die Lebenswelt der Menschen, Ihre Lebenswelt, meine Lebenswelt, und die Schnittmenge zwischen beiden. Da darf es bedingungslos zugehen, entsprechend der 1. Lesung und dem Jesaja-Wort „Kommt, kauft ohne Geld. Warum bezahlt Ihr mit Geld, was Euch nicht nährt?“ (…was übrigens ein wirkliches Argument in Sachen Austritt wäre, wenn man es auf die Kirchensteuer bezieht). Und Paulus beschreibt diese Lebenswelt in der zweiten Lesung, im Römerbrief sehr schön: „Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? […] Denn ich bin gewiss, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

Was hindert mich, was hindert Sie, was hindert uns, uns von Jesus ins Boot schicken zu lassen, aufzubrechen und ihn neu zu suchen an neuen, an anderen Ufern – und selbst bei Gegenwind mitten auf dem See?

Amen.

Köln, 02.08.2020
Harald Klein, Köln