Nachklang eines Besuchs in Berlin
Wenn ich Berlin besuche, gehört ein Gang zur Gedenkstätte des Deutschen Widerstandes im ehemaligen Bendlerblock, dem damaligen Hauptquartier der Deutschen Wehrmacht im Nazi-Deutschland, immer dazu. Am liebsten gehe ich allein, für mich – im doppelten Sinne des Wortes – dorthin. Der Erinnerung an die unterschiedlichen Menschen mit den unterschiedlichen Motiven, die für den deutschen politischen Widerstand im sog. III. Reich stehen, gelingt das, was manchen religiösen, frommen oder spirituellen Übungen nicht gelingt: sie erinnern mich an die Frage nach meinem Menschsein, hier, jetzt, heute und in die Zukunft hinein. Es geht um mein persönliches widerständiges Leben. Das, was christliche Frömmigkeit mit dem Predigen der Viten der Heiligen beabsichtigt, geschieht hier ganz unscheinbar und unaufdringlich, ganz leise durch die Aushänge, die Texte, die Fotos, das Lebenszeugnis der Menschen im Widerstand.
Mir geht es hier und heute nicht – oder nicht in erster Linie – um einen Widerstand, der ein politisches Verhalten meint, das sich gegen eine bedrohliche und nicht legitim empfundene Herrschaft richtet, gegen Personen, gegen Formen der Herrschaft oder gegen einzelne politische Maßnahmen.[1] Mag sein, dass es sich dahin entwickelt. Mir geht es hier und heute eher um das Wahrnehmen der kleinen Welt, die um mich herum ist, in der ich mittendrin stehe und lebe – und vielleicht auch schon um den Blick darüber hinaus. Allgemein bezeichnet Widerstand die Abwehr einer Gefahr. Oder positiv gewendet: Widerstand ist der Weg, meine eigene und innere Autonomie aufrecht zu halten, sie mir zu bewahren und sie vor Übergriffen aller Art durch andere und anderes auch zu beschützen.
auf welche Weise Welt (passiv) erfahren
und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird
oder werden kann. «
Ein Blick in die kleine Lebenswelt zu Hause – die Neusser Straße
Ich habe im Ohr, dass eine etwas ältere gute Freundin, der ich die Attribute weise und wach zuspreche, davon erzählt, wie sie die Menschen auf unserer Hauptstraße, der Neusser Straße, wahrnimmt. Was sie dort wahrnimmt, nehme ich auch wahr: Es gibt kaum noch Augen- oder Blickkontakte, kaum ein Lächeln oder einen Gruß. Stattdessen leere Blicke auf Handys, Anrempeln, Anpöbeln oder Schimpfen, wenn nicht gar Beleidigungen. „Schön angezogen“ ist in Köln eh selten, aber es scheint, als gäbe es nur noch Jogginghosen und Schlabbershirts. Und die Zahl der angeklebten langen und vor allem künstlichen tiefschwarzen Augenbrauen um die Augen korrespondiert mit langen und vor allem künstlichen angeklebten Fingernägeln in allen Farben und Formen. Immer stärker der Drang, etwas aus sich zu machen, was man nicht ist, sich zu optimieren – oder umgekehrt: sich gehen zu lassen. Daneben die steigende Zahl der bettelnden Menschen, die z.T. auch aggressiv neben den Passanten hergehen und nicht lockerlassen – wohlgemerkt, nicht die, die schon seit Jahren zu Veedel gehören, sondern die, die auf Clans schließen lassen. Kurz gesagt: Wenig „wir“, viel „ich“. Und nochmal das wichtige Wort: ich beschreibe hier weniger die „Wirklichkeit“ als vielmehr die „Wahrnehmung“ ihrer! Man könnte auch sagen: Ich spüre und empfinde, dass Blicke leerer und Töne rauer werden.
Aussteiger werden – für einen Moment
Jetzt zum Evangelium. Es ist eine kleine Anmerkung im heutigen Evangelium von der Speisung der Fünftausend, die mich aufhorchen lässt. Jesus zieht sich von der Menschenmenge zurück in eine einsame Gegend, fährt mit dem Boot über den See Genezareth, aber die Menschen folgen ihm zu Fuß übers Ufer. Dann schreibt Matthäus: „Als er ausstieg, sah er die vielen Menschen und hatte Mitleid mit ihnen und heilte ihre Kranken“ (Mt 14,14).
Ein erster ignatianischer Moment: Ich stelle mir vor, Jesu Boot würde an der Haltestelle Florastraße anlegen, und er würde aussteigen – wie im Evangelium beschrieben; er sähe die Menschen, und er hätte, ja was? Was macht er mit den leeren Blicken, dem rauen Ton, mit der Enttäuschung mancher Anwohnerinnen und Anwohner, dass es jetzt so ist, wie es (geworden) ist? – Ich stelle mir vor, ich säße mit ihm in einem Boot, würde anlegen, aussteigen, und ich würde das Mitleid mitempfinden, das er gegenüber den Menschen und für sie spürt.
Das ist die erste Frage in einem Themenblock „widerständig leben“: Wenn ich aussteige, und sei es nur für einen (ersten) Moment aus dieser Lebenswelt, in der ich Teil bin – schließlich lebe ich hier -, wenn ich „wie von außen“ drauf schaue, wie will ich leben, was will ich tun, wie will ich denken und handeln?
Das ist der zweite Ignatianische Moment, dass ich beginne, die Geister zu unterscheiden. Verärgerung, ärgerliche Verwunderung, Resignation und Angst sind sicher keine Reaktionen des guten Geistes, führen in Trostlosigkeit und nicht in Trost.
Und das ist dann die erste Antwort in einem Themenblock „widerständig leben“: Diesen unguten Geistesregungen möchte ich meinen Widerstand entgegensetzen, weil sie alles andere als lebensförderlich sind. Ich weiß, dass es mir schwer und schwerer fällt, in all den „Bad News“ und „Fake News“, bei so viel wirklich kaputtem Leben um mich herum noch irgendwie positiv gestimmt zu sein. Und gerade deswegen möchte ich „widerständig“ bleiben. Dem Ungeist der Resignation will ich widerstehen. In der kleinen Welt der Neusser Straße, aber auch in der großen Welt der Politik und der Krisen, die in der Lage sind, den Menschen die Freude am Leben und die Hoffnung zum Leben zu nehmen.
„Die Freiheit nutzt sich ab, wenn Du sie nicht nutzt“
Eine zweite liebe Freundin, diesmal etwas jünger als ich, aber ebenso mit wach und weise zu attribuieren, gab mir den Tipp: „Fang halt an! Und schau, wohin es Dich führt!“
Man muss kein vollständiges Programm haben, die Lebenswelt und die Politik zu reformieren, aber jeder Schritt – jedes „Aussteigen“ – kann seine Folgen haben. Zögern ist tödlich. Reinhard Mey singt in seinem Lied „Sei wachsam“, dass die Freiheit sich abnutzt, wenn Du sie nicht nutzt.[2]
Das Evangelium von der Brotvermehrung und der Speisung der Fünftausend klingt auf einmal anders. Den Ungeist des „Schick die Leute weg“, der die Jünger erfasst, kenne ich gut! Aber wie klingt angesichts der „Aussteiger-Aussichten“ jetzt das Wort Jesu: „Gebt Ihr ihnen zu essen!“ oder auch „Gib du ihnen zu essen!“ Und meine „fünf Brote und zwei Fische“? Was kann ich geben? Was soll, was will ich tun?
„Fang halt an! Und schau, wohin es Dich führt!“ Fünf Brote und zwei Fische. Mal einen Kontakt mit „Köln gegen rechts“ suchen. Am Montag. Und am Dienstag teilnehmen „Parteiarbeitskreis gegen rechts“ der Grünen in Köln. Und vor allem: Auf der Neusser Straße Blickkontakt suchen, lächeln, grüßen, den anderen ihre Kleidung lassen und schauen, wie ich auftrete. Und vor allem der Trostlosigkeit widerstehen, und widerständig all dem gegenüber sein, das mir meine Autonomie in der Entscheidung, in der Bewertung und im Tun angreifen will.
Das Evangelium endet mit dem „und alle aßen und wurden satt“. Ein langer Weg, aber das kann passieren, wenn man mit Jesus zum „Aussteiger“ wird.
Köln, 04.08.2023
Harald Klein
[1] Vgl. die Definition des Begriffes „Widerstand“ der Bundeszentrale für Politische Bildung [online] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18481/widerstand/ [04.08.2023].
[2] vgl. [online] https://www.youtube.com/watch?v=qY1-OUuOl24 [04.08.2023]