18. Sonntag im Jahreskreis – Wie weniger mehr ist

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Anfänge, die es in sich haben

Es gibt in der Literatur Anfänge von Erzählungen oder Romanen, die es in sich haben, die man kennt, die in wenigen Worten in der Lage sind, das Ganze zusammenzufassen, um was es im Folgenden gehen wird. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ – den ersten Satz der Bibel müssen schon die Erstklässler malen. Und „Im Anfang war das Wort“ – die Übertragung und Anknüpfung des Anfangs des Alten Testaments im Johannesevangelium ist Ihnen sicher auch bekannt. Und man überliest schnell, dass es „Im Anfang“ und nicht „Am Anfang“ heißt – letzteres ist eine Zeitansage, ersteres ein Beziehungswort!

Auch Sachbücher können (sich) so etwas leisten. Bei „Ein Gespenst geht um in Europa“ muss man schon ein wenig nachdenken. Das Kommunistische Manifest, 1846 in London verfasst von Karl Marx und Friedrich Engels, beschreibt den Weg zu einer neuen Gesellschaft und endet mit den programmatischen Worten „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Nicht nur der Anfangssatz, auch das Satzende ist fulminant.

Unübertroffen ist in der Geschichte der erzählenden Literatur wohl folgender Beginn: „Es war ein alter Mann, der allein in einem kleinen Boot im Golfstrom fischte, und er war jetzt vierundachtzig Tage hintereinander hinausgefahren, ohne einen Fisch zu fangen. In den ersten vierzig Tagen hatte er einen Jungen bei sich gehabt. Aber nach vierzig fischlosen Tagen hatten die Eltern des Jungen zu ihm gesagt, dass der alte Mann jetzt bestimmt für immer salao sei, was die schlimmste Form von Pechhaben ist, und der Junge war auf ihr Geheiß in einem anderen Boot mitgefahren, das in der ersten Woche drei gute Fische gefangen hatte. Es machte den Jungen traurig, wenn er den alten Mann jeden Tag mit seinem leeren Boot zurückkommen sah, und er ging immer hinunter, um ihm entweder die aufgeschossenen Leinen oder den Fischhaken und die Harpune oder das Segel, das um den Mast geschlagen war, hinauftragen zu helfen. Das Segel war mit Mehlsäcken geflickt, und zusammengerollt sah es wie die Fahne der endgültigen Niederlage aus.“[1] – In Ernest Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ ist im ersten Absatz vom ersten bis zum letzten Wort die ganze weitere Geschichte schon enthalten.

Einen ebensolchen Anfang, der in sich alles aussagt und der durch alles Folgende mitläuft, ist für mich der erste Satz aus Hartmut Rosas „Resonanz“. Rosa beginnt sein mehr als 700 Seiten zählendes Werk mit dem einfachen Satz: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.“[2]

» Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 13.

Beschleunigung als Problem

Es darf hier dahingestellt bleiben, dass im Vorgängerwerk von „Resonanz“ Hartmut Rosa über „Beschleunigung“[3]gearbeitet und die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne untersucht und beschrieben hat. Auf diesen Vorgänger antwortet jetzt sein „Resonanz“-Buch.

Viel lieber möchte ich mit Ihnen ein Blick ins heutige Evangelium werfen, der Tendenz zur Beschleunigung dort nachspüren und sie korrigieren, um auf diese Weise sogar dem zu gedenken, dessen Todestag auf den Tag genau vor 466 Jahren war – gemeint ist Ignatius von Loyola.

Der „reiche Mann“, von dem Jesus im Evangelium spricht, rechnet mit der Beschleunigung und Vervielfältigung seiner Möglichkeiten durch die gute Ernte. „Was soll ich tun? Ich habe keinen Platz, wo ich meine Ernte unterbringen könnte […] So will ich es machen: Ich werde meine Scheunen abreißen und größere bauen; dort werde ich mein ganzes Getreide und meine Vorräte unterbringen. Dann werde ich zu meiner Seele sagen: Seele, nun hast du einen großen Vorrat, der für Jahre reicht. Ruh dich aus, iss und trink und freue dich! Da sprach Gott zu ihm: Du Narr! Noch in dieser Nacht wird man dein Leben von dir zurückfordern. Wem wir dann das gehören, was du angehäuft hast?“

» Wir brauchen keine Magie, um unsere Welt zu verwandeln; wir tragen alle Kraft, die wir brauchen, bereits in uns: Wir haben die Kraft, uns Besseres vorzustellen. «
Rowling, J.K. (2017): Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie, Hamburg, 67.

Der Unterschied zwischen „multum“ und „magis“

Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Latein konnte; hätte er es gekonnt, wäre dieses Gleichnis ist der Ort schlechthin gewesen, um den Unterschied zwischen den beiden lateinischen Vokabeln „multum“ und „magis“ ins Spiel zu bringen, die beide zu Recht mit „mehr“ übersetzt werden können. Zum Glück ist 1500 Jahre später Ignatius da eingesprungen.

Der reiche Mann wird wohl in diesem Jahr „mehr“ Getreide als sonst, ein „multum“ an Getreide, einfahren. Es ist ein „Mehr“, was quantifizierbar, zählbar, numerisch vergleichbar ist. Des Reichen Raum langt nicht, es braucht Abriss, Umbau, Neubau, größerer Lagerhäuser und Scheunen. Es braucht den Plan des reichen Mannes – „So will ich es machen“, heißt es im Text – und sein planvolles Handeln, um eben mehr Gewinn zu machen. Und es braucht sie zwar nicht, aber es gibt sie: Die Seele, in unserer Bildsprache vielleicht eher das Herz, das sich beruhigen lässt mit dem Hinweis: „Nun hast du einen großen Vorrat, der für viele Jahre reicht. Ruh Dich aus, iss und trink und freue dich.“ Setzen Sie doch mal das an Vorrat ein, das Ihnen die Seele, das Herz ruhig zu machen scheint – und übersehen Sie dabei gleich die Angst, dass das ja alles verloren gehen oder zurückgefordert werden könnte (denn sonst wäre Ihre Seele, Ihr Herz „mehr“ unruhig als ruhig, und sonst wäre die Freude beim Ausruhen, Essen und Trinken schnell dahin, oder?)

Während das „multum“ mengenmäßig qualifizierbar ist, ist das „magis“ erlebensmäßig qualifizierbar. Geht es dem „multum“ um Breite, um Abschreiten eines Besitzes, um das Haben, so geht es dem „magis“ um Tiefe, um Tiefgang in der Begegnung, um das Sein.

» Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben zu geben. «
Cicely Saunders (1918-2005), Begründerin der modernen Hospizbewegung

Das „Magis“ – Kriterium für gelungenes und gutes Leben

Um es sehr vereinfacht zu sagen: Wenn dem reichen Mann eine gute Ernte ins Haus steht, ist er nicht verachtenswert, wenn und weil er neu baut, mehr Gewinn einfährt, es sich gut gehen lässt. Das „multum“ an sich gehört dem Reich der Zahlen, des „Quantifizierbaren“ an, es ist noch lange kein Kriterium für gelingendes, gelungenes oder gutes Leben. Die „Qualifikation“ für ein gelungenes und gutes Leben liefert eben das „magis“. Hat der reiche Mann es versucht, in die Tiefe zu gehen, hat er seinen Besitz genutzt, um Begegnung mit Tiefgang zu schaffen, nährt sich sein Sein nur vom Haben, hat er Freunde und Gefährten, oder ist er auch Freund und Gefährte? Wozu, wie und für wen will er seinen Gewinn aus der guten Ernte nutzen?

» Resonanz [...] bezeichnet ein wechselseitiges Antwortverhältnis, bei dem die Subjekte sich nicht nur berühren lassen, sondern ihrerseits zugleich zu berühren, das heißt handelnd Welt zu erreichen vermögen. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 270.

Resonanz – vielleicht die Lösung?!

Jesus nimmt die Formulierung „So geht es einem der nur für sich selbst Schätze sammelt, aber bei Gott nicht reich ist“ als Warnung für die Menschen des „multum“. Ich glaube, dass „multum“ und „magis“ gar nicht so sehr im Widerspruch stehen müssen. In den Weisen, wie ich Menschen, Weltanschauungen und Religionen, Dingen und Ereignissen begegne und nach der Resonanz schaue, die diese Begegnungen in mir auslösen, ahne ich, wo und bei wem „mehr Leben“ sowohl im Sinne von „multum“ (mehr, schneller, weiter) als auch von „magis“ (Tiefe, Sein und sein dürfen) zu finden ist. Ich entscheide: „multum“ oder „magis“? Es geht um die Resonanzen, die meine Begegnungen mit dem Leben in mir auslösen. Und deswegen ist der Anfang von Hartmut Rosas “Resonanz“ wirklich ein Anfang, der es in sich hat: „Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.“

Amen.

Köln 27.07.2022
Harald Klein

[1] Hemingway, Ernest (1966): Sämtliche Erzählungen, Reinbek, hier: Der alte Mann und das Meer, 417. – Die Entstehung dieses Werkes, das ausschlaggebend war für die Verleihung des Literaturnobelpreises für Ernest Hemingway, und die Verbindung zu den Inneren Kämpfen, die Hemingway im Zusammenhang mit seiner bipolaren Störung zu bestreiten hate, erzählt meisterhaft und in einer unglaublich schönen Sprache Ortheil, Hanns-Josef (2019): Der von den Löwen träumte, München.

[2] Rosa, Hartmut (2016); Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin, 13.

[3] Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Berlin.