19. Sonntag im Jahreskreis – Der Sprung in die Welt

  • Predigten
  • –   
  • –   

Ins Offene!

Friedrich Hölderlins Elegie „Der Gang aufs Land“ ist seinem Freund Landauer gewidmet. Die Anfangsworte „Komm! Ins Offene! Freund!“ sind Sehnsuchtsworte, sind Anfangsworte, die einen neuen Schritt, eine neue Richtung im Leben einleiten können. In Zeiten von Corona hat das „Offene“ einen schillernden und oft negativ konnotierten Beigeschmack, ihm fehlt die Perspektive der Hoffnung. Und dennoch: Das Philosophiemagazin „Hohe Luft“ hat auf seinem Titelblatt in der August/September-Ausgabe stehen: „Raus ins Offene“. Das „Philosophie-Magazin“ ist in der gleichen Ausgabe mit „Ins Offene. Wie lebe ich mit der Ungewissheit?“ nah dran. Beide beziehen sich auf Hölderlin – zumindest, was das „Offene“ angeht. Das „Komm“ und das „Freund“ fehlen den beiden Magazinen. Schade eigentlich!

Komm! Freund!

Das ist im Evangelium anders. Ich möchte ansetzen an der Predigt des letzten Sonntags und sie fortsetzen. Ich möchte ansetzen bei der Sehnsucht der Menschen, Jesus zu sehen und ihm zu begegnen, ansetzen bei den Jüngern, die diese Suche vielleicht satt haben, sich überfordert fühlen, nicht das bieten können (oder wollen), was die Menschen suchen: „Schick die Leute weg, damit sie in die Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen!“

Es gehört sicher bis heute zu den großen Leistungen der Kirchen, dass die „Brotvermehrung“ in der Weise geschieht, wie sie Matthäus beschreibt, aktuell vielleicht zu sehen in Beirut nach der großen Explosion. Sehen, wer da ist, sehen, was da ist, ins Beten gehen und teilen. Das ist gut so, Gott sei Dank! Aber es ist nicht alles.

Matthäus erzählt gleich nach der Feststellung, wie viel bei dieser Brotvermehrung übriggeblieben sei, dass Jesus die Jünger drängte, ins Boot zu steigen und ans andere Ufer vorauszufahren. Er drängt sie! Was mag das für einen Grund haben?

Und dann die bekannte Geschichte: das Boot, vom Land entfernt, im Gegenwind. Das haben sie davon, dass sie ins Offene aufgebrochen sind, sie, die Freude Jesu, auf sein drängendes „Komm“ hin.

Aussteigen aus der Enge

Und nicht nur das, da kommt auch noch einer, der aussieht wie ein Gespenst, auf sie zu, unfassbar – im doppelten Sinne des Wortes. Sie schreien vor Angst – wer es kennt, mag sich Edvard Munchs „Der Schrei“ als Illustration denken.

Und dann der Freund, Petrus: „Herr, wenn Du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu Dir komme.“ Und Jesu – im Stile Hölderlins: „Komm!“ Petrus wird zum Aussteiger aus der Enge auf das Wort, auf den Ruf des Freundes Jesu hin. Und das geht solange gut, wie er Jesus im Blick hat und sich nicht vom (Gegen-) Wind beunruhigen lässt. Als er untergeht, greift Jesu Hand nach ihm und zieht ihn, den Kleingläubigen und Zweifler, hoch.

Es sei nur nebenbei angemerkt, dass Elija in der ersten Lesung in der Höhle statt im Boot – wie die Jünger – die gleiche Erfahrung macht. Draußen, um ihn herum Sturm, Erdbeben, Feuer, und dann das stille sanfte Säuseln, das ihn herausholt aus der Höhle, damit er dort eine Ahnung von der Gegenwart Gottes bekommt.

Der Primat des Geschehens

Die Evangelien vom letzten und von diesem Sonntag im Blick frage ich mich, ob es nicht ein Gebot der Stunde ist, auszusteigen aus dem, was geistlich nur noch „Enge“ darstellt, oder „Höhle“, die mich gefangen nimmt. Mit Jesus in Berührung kommen, ihn sehen, hören, erahnen, verspüren im alltäglichen Leben – da bin ich einer der Menschen am Ufer bei der Brotvermehrung. Ihm meinen Hunger, meine Sehnsucht, meine Hoffnung, meinen Dank hinhalten, mit ihm gehen und ihn um seine Begleitung bitten, da weiß ich mich eingereiht in die Reihe der Jünger.

Vielleicht ist jetzt die Zeit, in der Jesus mich und die, die ähnlich denken, drängt, ins Boot zu steigen und hinauszufahren, ins „Offene“. Christsein in der Moderne hieß, „Zugriff“ zu haben, Glauben verwalten zu können und es zu verstehen, Erfahrungen mit Gott herbeizuführen. Christsein in der Postmoderne heißt, dem „Geschehen“ den Vorrang zu geben. Da kann es sein, dass Jesus im „Offenen“ und dann „wie ein Gespenst“ erscheint, und nur die Frage und Bitte, das Drängen des Petrus hilft; „Herr, wenn Du es bist, so befiehl, dass ich auf dem Wasser zu Dir komme.“ Christsein in der Postmoderne heißt auszusteigen, heißt auf dem Wasser zu gehen, heißt, in die Welt hineinzuspringen, mit beiden Beinen, weil es um Christus geht – und um mich. Ich will, darf, kann das Geschehen verstehen, interpretieren. Ich muss nicht annehmen, was andere mir vorkauen – auch theologisch nicht!

Ich muss dafür nicht aus der Kirche austreten, um ein „Aussteiger um Christi willen“ zu sein. Aber ich darf die Kirche als Mittel anerkennen, nicht als Ziel. Und wenn deren Mittel mir nicht mehr hilfreich sind, um „mehr“ mit Christus verbunden zu sein, dann darf ich sein fast schon drängendes „Komm! Ins Offene! Freund!“ wie ein Anfangswort und wie ein Sehnsuchtswort für mich hören und annehmen.

Von solchen „Aussteigern“ ist die Lyrik und ist selbst die Theologie voll. Suchen Sie sich Weggefährtinnen und Weggefährten, mit denen Sie in einem Boot sitzen, um auf Jesu Ruf hin auszusteigen.

Amen

Köln, 09.08.2020
Harald Klein