Wie die Faust aufs Auge
Am 13. August 1961 begann in den Ostteilen Berlins der Bau provisorischer Absperrungen an den Grenzen des sowjetischen Sektors zu West-Berlin. An den Verbindungsstraßen wurde das Pflaster herausgerissen. Jeglicher Verkehr an der Sektorengrenze wurde unterbunden. Niemand habe eine Absicht, eine Mauer zu errichten, verkündete zwei Monate vorher, am 15. Juni 1961, der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht. Am 12. August wurde mitgeteilt, dass zur Unterbindung der feindlichen Tätigkeiten der revanchistischen und militärischen Kräfte Westdeutschlands eine Kontrolle an der Grenze der DDR einschließlich der Grenze zu den Westsektoren von Groß-Berlin eingeführt werde, entsprechend der Grenzen jedes souveränen Staates. Nicht gesagt wurde, dass sich diese „Grenze“ vor allem gegen die Abwanderung der Menschen aus dem Gebiet der DDR richtete. Die Dramen, die sich an der Mauer – sie löste bald darauf die provisorischen Absperrungen ab – und um sie herum abspielten, sind hinlänglich bekannt und hoffentlich noch im Bewusstsein.
Das war heute vor 62 Jahren!
Am 10. August 1948 – also dreizehn Jahre und 3 Tage vorher – begann auf der Insel Herrenchiemsee „eine kleine, übersichtliche Gruppe von dreißig Experten aus den westdeutschen Besatzungszonen (der sog. „Verfassungskonvent“) mit der Arbeit an einer Art „Verfassung“. Die westlichen Alliierten hatten die Ministerpräsidenten der Bundesländer dazu aufgefordert. Deutschland sollte auf diese Weise an der eigenen demokratischen Neugestaltung mitwirken.“[1] Das Ergebnis der Beratungen bildete den Entwurf eines Grundgesetzes, den der sog. „Parlamentarische Rat“ weiterbearbeitete und der als „Grundgesetz“ am 08. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat genehmigt wurde.
Das war am Tag dieser Niederschrift vor 75 Jahren.
Das Evangelium von heute zeichnet das Bild des Bootes mit den Jüngern, dass am Abend auf dem See weit draußen hin und her geworfen wird, „denn sie hatten Gegenwind“ (Mt 14,24). Das passt wie die Faust aufs Auge: Die entsetzten Menschen in Berlin am 13.08.1961; das Zurückerinnern der Männer vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee am 10.08.1948 an die Zeiten der NS-Diktatur, aber auch der Weimarer Republik, ihr Vorausblick in etwas, was sie gestalten durften, und die Angst der Jünger im Boot am 13.10.2023, im Gegenwind bei hohem Wellengang unterzugehen.
Es ist das „widerständige Leben“, das eine Alternative zum Untergang, zum bloßen Hinnehmen dessen, was ist oder zum Hinnehmen dessen, was war, anzubieten vermag.
Vier Schritte auf dem Weg zum widerständigen Leben
Die beiden Theologen Christian Gremmels und Heinrich W. Grosse haben versucht, den Weg Dietrich Bonhoeffers in den Widerstand nachzuzeichnen.[2] Vier Schritte werden beschrieben, die ein Wachstum im widerständigen Leben illustrieren, so, wie es nicht nur bei Bonhoeffer, sondern auch bei den Menschen jenseits der Mauer, bei den Herren des „Verfassungskonvents“ und bei den Politikern und Politikerinnen des Parlamentarischen Rates und auch bei uns (entsprechend den Jüngern im Boot auf stürmischer See im Gegenwind) nachzuvollziehen ist. Ich umreiße die vier Schritte bei Bonhoeffer und überlasse es Ihrer Fantasie, sie zu übertragen.
Bonhoeffers erster Schritt war, für die Verfolgten einzutreten. Kurz gesagt: Es gilt, Unrecht beim Namen zu nennen, Hassbotschaften zu entkräften, Fake News richtigzustellen. Und so für die Verfolgten einzutreten. Bonhoeffer mahnt nach den sog. „Nürnberger Gesetzen“ von 1933, mit denen die Repressalien gegen die jüdischen Mitbürger legalisiert wurden, die Mitglieder und Verantwortlichen seiner Kirche: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“[3] Der erste Schritt des widerständigen Lebens: Unrecht wahrnehmen und beim Namen nennen.
Im zweiten Schritt modifizierte Bonhoeffer seine pazifistische Haltung. Der Weg vom Pazifismus zum Widerstand sieht vor, gegen die Verfolger zu handeln. M.a.W.: nicht mehr nur die Unrechtsbotschaft zu benennen, sondern die beim Namen zu nennen, die über diese Botschaften hinaus Unrecht tun. Es ist die Zeit seiner Auslandsaufenthalte, in Barcelona, in Nordamerika, in Dänemark, es ist die Zeit der Auseinandersetzung mit der Bergpredigt, mit Gandhi. Um aus der Schusslinie zu kommen, bietet die Bekennende Kirche in Deutschland Bonhoeffer eine Vortragsreise durch die USA an. Er hat sich aufgrund seiner deutlichen Kritik Feinde gemacht. Bonhoeffer reist mit dem Schiff in die für ein Jahr geplante Reise nach New York, kehrt aber nach drei Wochen zurück nach Deutschland. Hier, nicht in der Sicherheit der USA, ist sein Ort. „Wir wollen reden zu dieser Welt“, predigt Bonhoeffer, kein halbes, sondern ein ganzes Wort, ein christliches Wort. Wir wollen beten, dass uns dieses Wort gegeben werde, – heute noch – wer weiß, ob wir uns im nächsten Jahr noch wiederfinden.“[4] Der zweite Schritt des widerständigen Lebens: Die das Unrecht tun, identifizieren und beim Namen nennen.
Der dritte Schritt Bonhoeffers lässt mich aufhorchen! Zurück aus New York, geht er nach Finkenwalde (in Pommern, am Rande des Deutschen Reichs), gründet und leitet dort ab 1935 ein Ausbildungsseminar für Theologiestudierende und Kandidaten für das Amt des Pfarrers. Hier entsteht sein meistgelesenes Buch „Gemeinsames Leben“, hier entsteht sein Buch zur „Nachfolge“ (so der Titel) in bedrängter Zeit. In den Auseinandersetzungen mit den Studierenden bilden sich Positionen, die mit „Bleiben“ und „Gehen“ zu tun haben, mit Abwägungen dessen, was es heißen kann, in der „Nachfolge“ auf den Wegen der Bekennenden Kirche zu sein. Manch einer geht, aber andere finden zusammen und gehen gemeinsam. Hier beginnt die tiefe Freundschaft zwischen Eberhard Bethge, einem der Studierenden, und Dietrich Bonhoeffer. Der dritte Schritt des widerständigen Lebens: Wege des „gemeinsamen Lebens“ zu suchen, Gefährtinnen und Gefährten finden, die bereit sind, dieses widerständige Leben auf sich zu nehmen, anzunehmen, zu gestalten.
Der vierte Schritt Bonhoeffers zeigt sich in seiner Bereitschaft zur Verschwörung, zum Handeln nach außen. Seine vielen Auslandskontakte nutzt er, um vom Mitwisser zum Mittäter zu werden. Dies auszuführen, würde den Rahmen sprengen, und es ist zumindest für mich die unbekannteste Seite Bonhoeffers. Er schreckt nicht davor zurück, auszusteigen aus dem Leben des ein Lehrseminar Leitenden, lässt sich auf den gefahrvollen, schwankenden Boden des politischen Parketts ein, wissend, dass es Christus ist, der ihn ruft. Um der Menschen willen, um des Friedens willen, der zurückerobert werden muss. Bonhoeffer schreibt: „Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“[5]
„… vorher aber nicht.“
Bei allem, was in mir und um mich herum geschieht, frage ich mich: Nehme ich Unrecht wahr, oder ducke ich mich weg? Traue ich mich, traue ich mir zu, die beim Namen zu nennen, die anzusprechen, die Unrecht tun? Will, werde ich mit denen, die mir Gefährtinnen und Gefährten sind, wenigstens kleine Wege des widerständigen Lebens diskutieren und zu leben versuchen? Bin ich innerlich bereit, in einem politischen Projekt des Widerstandes gegen geschehendes Unrecht mitzuarbeiten?
Die Alternative wäre die Angst vor dem Gegenwind, das hin- und her geworfene Boot, in dem ich mit den Meinen sitze. Und die eigentliche Frage ist, ob ich in dem, der da (oder das da) erscheint, Christus erkenne und mich von ihm herausrufen lasse, über die Wellen und Wogen hinweg ihm entgegen, auf ihn zu. Es geht ums Leben!
Amen.
Köln, 10.08.2023
Harald Klein
[1] vgl. [online] https://www.zdf.de/nachrichten/briefing/verfassung-ecowas-bobbycar-biedenkopf-zdfheute-update-100.html [10.0.8.2023]
[2] vgl. Gremmels, Christian/Grosse, Heinrich W. (1996): Dietrich Bonhoeffer. Der Weg in den Widerstand, 3. Aufl. 2006, Gütersloh.
[3] a.a.O., 17.
[4] a.a.O., 28.
[5] a.a.O. 43.