2. Sonntag im Jahreskreis – Am Anfang – ein Fest

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Liturgische Eigenarten nach der Weihnachtszeit

Die Zahl der Katholiken, denen die Logik des Kirchenjahres geläufig und bewusst ist und die ihr alltägliches Leben danach ausrichten, ist nicht nur gering, sie nimmt gefühlt jedenfalls auch mehr und mehr ab. Ich will gern gestehen, dass diese liturgische und irgendwann mal spirituell nachvollziehbare Zeitrechnung auch für mich eine mehr und mehr untergeordnete Rolle spielt. Man mag wissen, dass die großen Feste wie Ostern und Weihnachten eine Vor- und eine Nachbereitungszeit haben (Fasten- und Osterzeit bzw. Advent und Weihnachtszeit), dass sie Anfänge (Aschermittwoch bzw. 1. Advent) und Schlusspunkte (Pfingsten und den Sonntag der Taufe des Herrn) haben. Aber was nützt dieses Wissen? Wem nützt es? Und genauso wenig Nutzen hat es zu wissen, dass Sie einen „1. Sonntag nach Weihnachten“ genauso wenig finden werden wie einen „1. Sonntag nach Ostern“, einfach deswegen, weil die Woche nach Weihnachten und Ostern ja schon Werktage in der „1. Woche nach Weihnachten bzw. Ostern“ hat und man „liturgisch“ den Ostersonntag und den Sonntag „Taufe des Herrn“ sowohl als Endpunkt der Festzeit als auch als Ausgangspunkt der Zählung im Jahreskreis nimmt. Sagen Sie jetzt nicht, Sie hätten nichts gelernt – ok, aber was nutzt es Ihnen?

Aber noch verrückter ist es, dass im „Lesejahr[1] C“, in dem die Sonntagsevangelien aus dem Lukasevangeliumgenommen werden, am Start-Sonntag des Jahreskreises die Hochzeit zu Kana gelesen wird, ein Text aus dem Johannesevangelium. Gehen Sie mal in die Figur des Lukas: Da beginnt heute “Ihr“ Jahr, aber Sie tauchen gar nicht auf! Man könnte meinen, Johannes würde den Lukas verdrängen, und der hätte einen Zorn deswegen auf den Johannes.

» Die Vergangenheit hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt.
Mein Atem heißt
jetzt «
Ausländer, Rose (1981): Mein Atem heißt jetzt, Frankfurt/Main, 5.

Lineares und zyklisches Feiern

Ich habe eine strukturelle und eine inhaltliche Erklärung im Blick auf diesen Umstand hin für mich gefunden, die ich Ihnen gerne anbieten möchte.

Zuerst die strukturelle Erklärung: Liturgisch, vielleicht sogar theologisch denkt man nicht linear, nicht von einem Anfang über einen mehr oder weniger geradlinigen Weg auf ein Ende hin, so, wie man Biografien scheibt oder liest, oder so, wie die Bewerbenden ihre Lebensläufe schreiben. Die liturgische, vielleicht sogar die theologische Denkweise ist zyklisch.

Um es zu verdeutlichen: Lineares Denken sieht in jedem Neujahr eine Kerbe auf der Lebenslinie, die immer mehr einem Ende nahekommt. Zyklisches Denken setzt Hoffnung auf Neuanfang frei, auf Beginn, auf Loslassen und Neuanfang. Oder mit einem Blick aus Weihnachten und seine Feier: Linear gedenkt man der Geburt Jesu, der Menschwerdung Gottes „damals“ in Bethlehem in der Krippe in der Vergangenheit und holt das Andenken an dieses Geschehen durch Lieder, Texte, Rituale in die Gegenwart. Zyklisch feiern wir die Menschwerdung Gottes präsentisch als Vollzug und Geschehen im eigenen Herzen – zumindest als gegenwärtige Möglichkeit.

» Ich sehe Dich mit Freuden an
und kann mich nicht satt sehen.
Und weil ich nun nicht weiter kann,
bleib ich anbetend stehen.
O dass mein Sinn ein Abgrund wär‘,
und meine Seel’ ein weites Meer,
dass ich Dich möchte fassen. «
Gerhardt, Paul (1607-1676); vierte Strophe des Liedes "Ich steh' an Deiner Krippe hier"

Am Anfang – ein Fest

Dann die inhaltliche Erklärung: Am Anfang – ein Fest. Man könnte sehr pragmatisch sagen, dass es im Lukasevangelium nicht so viele Feste gibt – da ist das Fest des barmherzigen Vaters, das er nach der Rückkehr seines „verlorenen Sohnes“ ausrichtet, und das seinen Platz nun wirklich eher in der Zeit der Umkehr, der Fastenzeit hat. Oder das Gleichnis vom Fest all derer, die von den Hecken und Zäunen geholt werden, weil die zuerst Eingeladenen alle irgendwie etwas scheinbar Besseres zu tun haben, aber wer möchte sich schon mit denen von den Hecken und Zäunen vergleichen lassen? Wenn das so wäre, würde sich Lukas bei Johannes eher bedanken, dass er seinen Text über das Fest am Anfang zur Verfügung stellt. Gern geschehen, wird Johanne sagen.

Am Anfang – ein Fest. Das ist ja nun wirklich nicht nur beim „Lesejahr C“ so. Das ist das Geheimnis des Anfangs[2], der Anfänge. Schauen Sie mal auf Ihre wirklich festen Freundschaften, vielleicht auf den Beginn der Partnerschaft, in der Sie leben, auf die Begegnungen mit Ärzt*innen und Therapeut*innen, die Ihnen zurück ins Leben geholfen haben usw. Das waren und das sind alles „Hochzeiten“ (mit langem „o“ gesprochen) Ihres Lebens – und mir wird klar, warum der Anfang des „Lesejahres C“, warum die Sonntage im Jahreskreis – im alltäglichen Leben der Kirche wie der Menschen in ihr und außerhalb ihrer – mit dem Evangelium von einer „Hochzeit“ (mit kurzem „o“ gesprochen) beginnt. Am Anfang – ein Fest.

Diese Art Anfänge klingen in mir nach, mache ich fest an einem Weihnachtslied von Paul Gerhardt (1607-1676), das Johann Sebastian Bach (1685-1750) in sein „Weihnachtoratorium“ aufgenommen hat, das aber auch zum Volksliedgut an Weihnachten gehört. Ich meine das „Ich steh an deiner Krippe hier“ und darin die vierte Strophe: „Ich sehe Dich mit Freuden an / und kann mich nicht satt sehen. / Und weil ich nun nicht weiter kann, / bleib ich anbetend stehen. / O dass mein Sinn ein Abgrund wär‘, / und meine Seel’ ein weites Meer, / dass ich Dich möchte fassen.“ Es gibt Anfänge, sei es in Begegnungen mit Menschen, sei es in Begegnung mit Literatur, mit anderen Künsten, sei es in der Wahrnehmung der Welt um mich herum und über mir, sei es hoffentlich auch in der Begegnung mit mir selbst, da klingt das Lied auf. Da wird ein Anfang zum Fest. „Ich sehe Dich mit Freuden an“ – Ausgangspunkt für eine fleischgewordene Spiritualität.

» Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 13.

Spiritualität als Resonanz-Raum

„Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung“, so beginnt der Soziologe Hartmut Rosa seine Untersuchung über Resonanz[3] und untertitelt sie mit „Eine Soziologie der Weltbeziehung“. Die lineare wie die zyklische Begegnung mit Christus muss etwas zum Klingen bringen können, muss aufblühen lassen, muss vielleicht auch den Charakter des Herausforderns ins Leben, in die Freiheit haben. Diesen Resonanzraum möchte ich Kirche nennen – umgekehrt zu behaupten, Kirche sei ja Resonanzraum, scheint mir nicht zulässig.

In den Geschehnissen der geschilderten Hochzeit von Kana entdecke ich diese Resonanz. Sei es im „Herr, sie haben keinen Wein mehr“ der Maria, sei es in der Aufforderung Jesu an die Diener, die Krüge mit Wasser zu füllen, sei es im Staunen dessen, der den besseren Wein kostet, sei es in der Freude der Diener, die im Geschehen die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu erkennen. Resonanz und glaubendes Erkennen, Resonanz und Erahnen eines lebenspendenden Geistes hängen absolut zusammen. Das gilt vor allem auch für die Hochzeiten“ (mit langem „o“ des Lebens! Entweder ist Spiritualität ein Resonanz-Raum oder es nicht Spiritualität!

In den ersten Sonntagen im Jahreskreis möchte ich mit Hartmut Rosas Resonanzbegriff versuchen, die Evangelien zu deuten. Das setzt zum einen die lineare Lesart des Lebens voraus, weil ich all die Texte kenne, denn vor drei Jahren (und oft genug danach auch) waren sie Predigttexte. Das setzt zum anderen aber auch die zyklische Lesart des Lebens voraus, nämlich dann, wenn ich frage, was sie mir in meinem persönlichen „circle of life“ heute, in diesem Jahr, in meiner jetzigen Lebenssituation sagen.

Mit anderen Worten: Wie steht es um die Resonanz, die die Evangelien, in diesem Jahr besondere das Lukasevangelium, bei mir, bei Ihnen hervorzurufen vermag? Was ist dabei an mir, an Ihnen, an meiner und Ihrer Vorbereitung, an meinen und Ihren Werten und Haltungen, damit Resonanz entstehen kann? Und wohin führt mich, führt Sie diese Resonanz – wenn sie nicht einfach verklingt?

Ich freue mich auf diese Lesart der Evangelien, angestoßen durch einen Soziologen, den ich sehr schätze. Vielleicht kann es gelingen, auf diese Weise in der „Soziologie der Weltbeziehung“ eine „Soziologie der Christusbeziehung“ zu erkennen oder zu erahnen. Mit dem Blick auf den menschgewordenen Gott können die Differenzen eigentlich so groß sein, müssen die Überschneidungen gut erkennbar sein. Ich bin gespannt.

Amen.

Köln 15.01.2022
Harald Klein

[1] Im Vortrag der Sonntagsevangelien gibt es drei sich abwechselnde „Lesejahre“: Im Lesejahr A werden die Evangelien der Sonntag im Jahreskreis aus dem Matthäusevangelium, im Lesejahr B aus dem Markusevangelium und im Lesejahr C aus dem Lukasevangelium genommen. Das Johannesevangelium füllt das Lesejahr B auf, weil das Markusevangelium zu kurz für ein ganzes Lesejahr ist bzw. liefert die Evangelien an besonderen Hochfesten im Kirchenjahr. Wieder was gelernt, oder? Und wieder: Wem nutzt es?

[2] Die Hesse-Predigten sind vorbei, aber hier würde natürlich wunderbar die Zeile aus Hesses „Stufen“ hinpassen: „… und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Wenn Sie es genau betrachten, gilt das sowohl für die lineare als auch für die zyklische Lesart des Lebens.

[3] Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Auflage, Berlin, 12.