Der Blick ins begonnene Jahr
In Köln hat am 08. Januar der letzte der Weihnachtsmärkte seine Stände abgebaut. Auf unserem kleinen Schillplatz in Nippes werden ausrangierte Weihnachtsbäume gesammelt und entsorgt. Und irgendwie stehe ich etwas peinlich berührt da, wenn ich denen, die ich noch nicht getroffen habe, jetzt noch ein „gutes Neues“ wünschen möchte, hat doch das „Alte“ uns schon wieder ziemlich im Griff! Geht es Ihnen ähnlich?
Ein paar Januarträume wird es noch geben. Die Frage an Freund*innen, Partner*innen oder die aus der Familie, die es betrifft, wo der Urlaub im Sommer stattfinden soll: Berge – Meer – Bodensee? Ob man sich nachhaltig den Traum mit der kleinen Photovoltaik-Anlage am Dach erfüllen – oder vielleicht lustvoll Aida oder Hurtigruten buchen soll? Es hat etwas Beruhigendes, ins neue Jahr blicken zu können und Punkte zu entdecken, auf die hin die Entscheidung bei einem selbst liegt. Dazu gehört all das, über das Sie die Kontrolle haben.
sah Johannes der Täufer
Jesus auf sich zukommen... «
Der Blick des begonnenen Jahres
Wenn Sie sich das begonnene Jahr einmal personifiziert vorstellen, dann haben Sie schnell klar, wie sehr es auf Sieblickt und auf Sie zukommt, mit was, mit wem auch immer. Es hat etwas Beunruhigendes, vom neuen Jahr angeblickt zu werden und Punkte höchstens zu erahnen, die auf Sie zukommen oder zukommen könnten. Dazu gehört all das, über das Sie keine Kontrolle haben, wir sprechen vom Kontrollverlust.
Diesen Kontrollverlust auszuhalten, gelingt nur, wenn Sie die passenden „Werkzeuge“ für diese unsicheren Zeiten zur Hand haben. Ein gutes soziales Netz kann stützen, materielle Sicherheit und eine gute innere Haltung, mit Ungeplantem und Überraschenden umzugehen, sind dienlich. Auch das erinnernde Wissen um bereits geleistete und gelungene Arbeit und Leistung sowie ein Einschätzen der eigenen körperlichen Gesundheit[1] bilden ein Geländer, an dem Sie sich halten können, um diesem Anblick Ihrer durch das neue Jahr standhalten und aushalten zu können.
Der Eingangssatz aus dem heutigen Evangelium lautet: „In jener Zeit sah Johannes den Täufer Jesus auf sich zukommen…“ In meiner Fantasie ist der auf Johannes zukommende Jesus so ein „Blick aus dem begonnenen Jahr“, ein Blick von etwas, von jemand Neuem, der auf Johannes gerichtet ist. Kontrolle? Kontrollverlust? Wie mag er damit umgehen?
Schnittpunkte ausmachen und aushalten
Das Ganze spielt am Jordan, an der Taufstelle dieses Flusses, die Sie heute noch besuchen können. Der Jordan, das Taufgeschehen ist im Evangelium der Schnittpunkt zwischen dem, was auf Johannes (bzw. dem, der auf Johannes) zukommt, und Johannes selbst. Diese Schnittstelle, diesen Schnittpunkt werden Sie am eigenen Leib immer dann erfahren, wenn Sie im Modus des Kontrollverlustes entscheiden oder agieren müssen.
Sie erinnern sich an die Schilderung der Taufe Jesu am letzten Sonntag? Jesus kommt an den Jordan, Johannes sieht ihn und sagt: „Ich müsste von Dir getauft werden, und Du kommst zu mir?“ Jesus aber entgegnet: „Lass es nur zu. Denn so können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen.“ Und heute, kurz und knapp: „In jener Zeit sah Johannes den Täufer Jesus auf sich zukommen…“
Eugen Drewermann bringt den Konflikt, der sich für Johannes auftut, ins Wort: „In der christlichen Dogmatik wird Jesus der Sohn Gottes genannt. Wie aber, wir sähen in ihm ein Du, das uns nie zu einem Es macht, das bei zum Zentrum einer Aktivität wird, die uns in Objekte verwandelt, sondern das bleibend etwas ist, das mit sich reden lässt und das wir anreden dürfen?“[2]
„Da kommt was auf mich zu“ – Da blickt mich das Jahr an und stellt mir etwas oder jemanden vor Augen, das/den ich gar nicht sehen, um mich haben will. Da taucht einer auf, der mich ansieht, ohne dass ich ihn gerufen hätte. In der Perspektive des Johannes können Sie auch solche Situationen verbinden mit dem „sah Jesus auf sich zukommen“. Was will der von mir? Wie“ re-agiere“ ich, wenn das Agieren schon nicht geht?
Wahrheit oder Pflicht
Mir hilft dann die Erinnerung ans Flaschendrehen, an das Spiel „Wahrheit oder Pflicht“. „Pflicht“ steht für Routine, für Absprache, für Konvention, für Erwartungen anderer usw. Das wäre eine Religiosität, die z.B. in Jesus den Sohn Gottes sieht, entschieden nach den moralisch-ethischen Vorgaben, nach im Katechismus vorgegebenen Handlungen. Ich würde dann, im Sinne des Drewermann-Zitates, zu einem Es gemacht und als ein Es handeln. Den Kontrollverlust würde ich verschieben und die Kontrolle einem oder mehreren anderen abtreten. Oder anders: Es geschieht durch mich.
„Wahrheit“ als „meine Wahrheit, in der ich lebe“ baut auf den Säulen des Lebenshauses und auf den genannten „Werkzeugen“ auf: Das soziale Netz, in dem ich mich getragen weiß, meine materielle Sicherheit und meine innere Haltung Neuem gegenüber; meine bisher geleistete Arbeit sowie meine körperliche Gesundheit[3] bilden ein Geländer, an dem ich mich halten kann. Ich lasse es in meiner und durch meine Wahrheit geschehen.
Der Lebensdiskurs ist der Wahrheitsdiskurs
Der Pflichtcharakter des Glaubens und des kirchlichen Lebens gehört zu dem, was Unbehagen auslöst, zumindest bei liberal denken und freiheitlich lebenden Menschen. Die Sehnsucht nach einer Wahrheit zum Leben bleibt davon unberührt, aber auch oft unbeantwortet. In seiner kleinen „Philosophie des Zen-Buddhismus“ weist der Soziologe Byung-Chul Han mit einer ersten Anmerkung nach dem ersten Satz darauf hin, worin sich Buddhismus und Christentum unterscheiden. Der Buddhismus sei ein Heilsweg, ein „Fahrzeug“, das die Lebewesen aus der leidvollen Existenz herausführen will. Es geht dem Buddha nicht um eine „Wahrheit“, sondern um ein „Fahrzeug“, um ein Mittel, das sich erübrigt, wenn das Ziel erreicht ist. Und er folgert: „So ist der buddhistische Diskurs frei vom Wahrheitszwang, der den christlichen Diskurs bestimmt.“[4]
Wenn hier der Begriff der Wahrheit auch das meint, was ich unter „Pflicht“ beschrieben habe – das Erfüllen der Rückschlüsse, die aus der christlichen „Wahrheit“ stammen – so mag das doch mit Ihrem Blick ins begonnene Jahr und mit dem Blick des begonnenen Jahres auf Sie gelten: (1) Es geht in christlicher Spiritualität in dieser Frage nach dem Unkontrollierbaren im Leben zuerst darum anzuerkennen, dass keine Formel und kein Ritus mir die Kontrolle geben werden. (2) Es geht um das Glauben an und das Herausfinden des Heilsweges in all dem, was kontrollierbar, aber vor allem auch was unkontrollierbar ist.Dieser Weg will gelebt, in Glaubenswahrheiten festgehalten werden. (3) Die verschiedenen Spiritualitäten haben dazu eigene „Fahrzeuge“ oder „Heimsiege“ beschrieben; dazu gehört im Christentum die Möglichkeit, bleibend mit Christus zu reden und angesprochen zu werden; dazu gehören Modelle wie die der fünf Säulen des Lebenshauses; dazu gehört das Aufgeben des Bemühens, möglichst immer die Kontrolle behalten zu wollen, und stattdessen gelassen in Phasen des Kontrollverlustes zu handeln. Diese Energie ist sicher besser eigesetzt als der Kampf um ständige Kontrolle.
Zumindest habe ich Jesus und auch Johannes den Täufer in ihren Lebenszeugnissen so verstanden.
Amen.
Köln 12.01.2023
Harald Klein
[1] vgl. Alps, Nicole (2020): Wie stabil steht Dein Lebenshaus? [online] https://zeitzuleben.de/5-saeulen-der-stabilitaet/ ]12.01.2023]
[2] Drewermann, Eugen (2003): Das Johannesevangelium. Bilder einer neuen Welt. Erster Teil, Düsseldorf, 68.
[3] vgl. Anm.1.
[4] Byung-Chul Han (2002) Philosophie des Zen-Buddhismus, Stuttgart, 7, Anm. 1.