Ihre Fantasie ist gefragt
Dieser erste Sonntag im neuen Jahr, der gleichzeitig der zweite Sonntag nach Weihnachten ist, könnte Sie herausfordern, Ihre Fantasie einzusetzen. Aber Vorsicht, dieser Einsatz Ihrer Fantasie könnte auch gefährlich werden – vieles hängt davon ab, wohin Sie sich von Ihrer Fantasie führen lassen.
Ich habe die erste Lesung im Blick. Um die Weisheit geht es, sie lobe sich selbst und rühme sich selbst inmitten ihres Volkes, schreibt der Autor des Buches Jesus Sirach. Und nicht nur da, auch in der Gegenwart des Höchsten rühme sie sich. Aber lesen Sie selbst:
„Die Weisheit lobt sich selbst, / und inmitten des Volkes rühmt sie sich.
In der Versammlung des Höchsten öffnet sie ihren Mund /
und in der Gegenwart seiner Macht rühmt sie sich.
Der Schöpfer des Alls gebot mir, /
der mich schuf, ließ mein Zelt einen Ruheplatz finden.
Er sagte: In Jakob schlage dein Zelt auf, /
und in Israel sei dein Erbteil.
Vor der Ewigkeit, von Anfang an, hat er mich erschaffen /
und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht.
Im heiligen Zelt diente ich vor ihm/
so wurde ich auf dem Zion eingesetzt.
In der Stadt, die er ebenso geliebt hat, ließ er mich Ruhe finden /
in Jerusalem ist mein Machtbereich.
Ich schlug Wurzeln in einem ruhmreichen Volk, /
im Anteil des Herrn, seines Erbteils.“
Jetzt des Wagnisses erster Teil: Stellen Sie sich in Ihrer und mit Ihrer Fantasie vor, Ihre Weisheit, Ihr Verstand, Ihre Vernunft, Ihre Emotionen, Ihre Pläne, Ihre Vorsätze (schließlich ist es der erste Sonntag im neuen Jahr) wären eine Person, hätten Persönlichkeit außerhalb Ihrer und würden reden – mit den Worten der Weisheit in dieser Lesung. Sie hören der Weisheit zu, die zu Ihnen gehört, die sich aber außerhalb Ihrer personifiziert und sich selbständig gemacht hat. Anschließend lesen Sie die Lesung mit Ihrer eigenen Stimme, als sei Ihre Weisheit wieder zu Ihnen zurückgekehrt, und als spräche sie mit Ihrer Stimme – und es ist ja Ihre Stimme, die Ihrer Weisheit Ausdruck verleiht. Es ist sicher nicht schlecht, sie laut zu lesen und sich selbst zuzuhören.
Wie mag es Ihnen dabei ergehen? Achten Sie auf Gefühle, die aufsteigen, auf Ihren Atem, auf Bilder, die sich einstellen.
Die Kunst des Einredens
Es gehört zum spirituellen Wissen vieler Begleiterinnen und Begleiter, dass das Beten mit Sätzen aus der Schrift oder aus der Weisheit anderer Kulturen und Religionen den Lebensweg von Menschen beeinflussen können. Solches „Einreden“ kann positiv wie negativ auf den Menschen wirken (in der Negativversion sind wir wahrscheinlich besser!). Solches „Einreden“ ist auch ein Werk Ihrer Fantasie, aber seien Sie vorsichtig: Es ist nicht nur ein Werk Ihrer Fantasie, weil es Wirkungen zeigt! Und: Auch das ist ein Werk für Ihre Fantasie, die Rede der Weisheit als „Einrede“ für sich selbst zu sehen- und spüren Sie dem nach, was dann geschieht. Wie wirkt sich das aus, wenn Sie sich sagen: „Vor der Ewigkeit, von Anfang an, hat er mich erschaffen und bis in Ewigkeit vergehe ich nicht.“ Oder: „In der Stadt, die er ebenso geliebt hat, ließ er mich Ruhe finden.“ Wie anders kann Gottes Wort in Ihnen wirken, wenn nicht durch diese Kunst des „Einredens“, in der eine Wirklichkeit erschaffen und wirksam wird, die durch die wiederholte Annahme – im doppelten Sinne des Wortes – dessen, was Ihnen zugesagt wird, ihre Wurzeln hat?
„Ich schlug Wurzeln…“
Ein einziges Wort möchte ich Ihnen an diesem ersten Sonntag des neuen Jahres zur „Annahme“ anbieten, nein, es sind drei Worte, die im letzten Vers der ersten Lesung stehen: „Ich schlug Wurzeln…“
Ein drittes Mal ist Ihre Fantasie gefragt. Vorhin ging es um Ihre Weisheit, Ihren Verstand, Ihre Vernunft, Ihre Emotionen, Ihre Pläne, Ihre Vorsätze, die ihre Stimme erhoben und denen Sie zuhörten. Jetzt geht es um das neue Jahr selbst. Geben Sie ihm doch einmal Stimme, hören Sie seinen Verheißungen und Versprechen, seinen Ungewissheiten und Ratlosigkeiten, seinen Befürchtungen und Ängsten zu. Welche Freuden und vielleicht sogar begründeten Hoffnungen kommen da auf Sie zu, was müssen Sie aushalten, was ist offen und eher dunkel?
Und dann die drei Worte – jetzt im Präsens zu lesen: „Ich schlage Wurzeln…“ Mit diesem Wort dürfen Sie spielen! Es geht weniger um die Wurzeln Ihrer Herkunft, Ihrer Geschichte. Es geht um das, was Sie – nicht nur zu Beginn des neuen Jahres, sondern auch in den anderen Monaten – wachsen lässt, um das, was Ihnen Halt gibt, was Sie nährt. Das ist das Beste, was Ihnen zu Beginn eines neuen Jahres passieren kann: das Wissen, dass Sie Wurzeln geschlagen haben, dass Sie eingewurzelt sind, dass Sie Halt haben. Ihre Wurzeln lässt Sie auf-stehen für das neue Jahr, lässt sie be-stehen im neuen Jahr, lässt Sie vieles ver-stehen und – wer weiß wie lange noch – lässt Sie klug Ab-Stand nehmen von wem und was auch immer.
Aber Achtung: Sie dürfen Wurzeln schlagen, aber Sie dürfen nicht die Wurzeln schlagen, zerreißen, zerstören, aus dem Nährboden ziehen, es würde Sie die Blüte, vielleicht sogar Ihr Leben kosten.
„Im Anfang war das Wort“
Im Evangelium wird der Johannesprolog gelesen, ich weiß nicht zum wievielten Male in den Weihnachtstagen. Johannes schreibt: „Das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Welt nahm ihn nicht auf.“ Hier ist die Möglichkeit gut beschrieben, anstatt selbst Wurzeln im menschgewordenen Wort zu schlagen, das menschgewordene Wort zu schlagen.
Wir stehen im Anfang des neuen Jahres – „am“ Anfang stehen heißt gespannt sein auf das, was kommt. „Im“ Anfang zu stehen heißt die Situation zu genießen, anzunehmen, im Jetzt, in der Gegenwart zu sein und sich „aus-zu-richten“ und sie „ein-zu-wurzeln“. Möge Ihnen an diesem ersten Sonntag des neuen Jahres beides gelingen, das Aus-Richten und das Ein-Wurzeln. Und möge das Höre auf Ihre Weisheit, die zu ihnen reden will und wird, Ihnen eine Hilfe dabei sein.
Amen.
Köln, 02.01.2021
Harald Klein