2. Weihnachtstag – Stephanus – oder: Schlag auf Schlag

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Exit – ein Einmal-Spiel

Mit meinen Neffen und Nichten habe ich ein Spiel namens „Exit“ ausprobiert. Eine Spielanleitung sagt: „Sie besuchen die Cheops-Pyramiden, verlieren Ihre Gruppe und müssen nun durch das Lösen von Rätseln den Weg hinausfinden“, zum „Exit“ eben. Dabei wird Ihnen einillustriertes (Spiel-) Tagebuch eines „vorherigen Touristen“ an die Hand gegeben, in dem Sie Hinweise auf die Wege und natürlich auch auf die Lösung der Rätsel finden. Spannend, viel Kreativität ist gefragt – der Nachteil: man kann das Spiel nur einmal spielen, dann weiß man die Lösung.

Der Spiegel im Spiel

Warum erzähle ich Ihnen das am Fest des Hl. Stephanus, des ersten Märtyrers der Christenheit? Ich erzähle es deswegen, weil mir dieses Spiel die Möglichkeit eines Verständnisses gibt, warum man nach vier Wochen Advent, nach der rührseligen Heiligen Nacht und dem feierlichen ersten Weihnachtstag schon einen Tag später, angesichts der Krippe und der Weihnachtslieder, die Lesung von Stephanus  und von seinem Ausgeliefertsein und seiner Steinigung hört. Und warum sich dem ein Evangelium anschließt, das mahnt, sich vor den Menschen in Acht zu nehmen, das von Brüdern berichtet, die einander ausliefern und von Kindern, die ihr Eltern in den Tod schicken. Das geht Schlag auf Schlag. Von wegen „Frohe Weihnachten“ am 2. Weihnachtstag!

Die Möglichkeit eines Verständnisses habe ich Ihnen versprochen. Hier ist sie. Im Tagebuch des Forschers im Spiel „Exit“ soll an einer Stelle ein Zahlencode entdeckt werden, man hat aber nur ein Blatt mit seltsamen Zeichen zur Hand. Aber: In der Kammer hängt ein Spiegel, und wenn man das Blatt mit den Zeichen an der richtigen Stelle knickt und dann mit dem Knick an den Spiegel hängt, werden die Zeichen ergänzt, und Sie können die Zahlenkombination im Spiegel sehen.

Und jetzt haben Sie die Lösung und das Verständnis der so verschiedenen Lesungen und Evangelien an den Weihnachtstagen: Wie ein Spiegel und wie im Spiegel ergänzt die eine Hälfte um die fehlende Hälfte, allerdings spiegelverkehrt!

Das Los des Stephanus – spiegelverkehrtes weihnachtliches Leben

Jetzt haben Sie Weihnachten komplett. Die eine Seite, die der Einfachheit, des Einstehens und der Sorge füreinander, der singenden Engel und der sprachlosen Könige – das ist die eine Hälfte, die das Leben der Menschen nicht vollends darstellt. Es gibt auch die andere Hälfte, die sich in Stephanus und seinem Schicksal zeigt und die er beinahe stellvertretend und beispielhaft für alle Menschen erleiden muss – aber die ist spiegelverkehrt. Von der gilt es umzukehren Diese Seite wird nie ganz aufgelöst werden, aber sie ist nicht die, für die Menschen geschaffen sind. Sie scheint mächtig zu sein, lebensbedrohlich und lebensvernichtend – aber im letzten vermag sie genau das nicht, weil sie nicht echt, weil sie eben verkehrt ist, spiegelverkehrt.

„Ich sehe den Himmel offen“

Ich glaube, der heilige Stephanus hat das schon gewusst, ohne das Spiel „Exit“ zu kennen. Wie sonst hätte er angesichts seiner Verleumdung sagen können: „Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ Oder während seiner Steinigung: „Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!“ und schon sterbend „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“

Und dass das, was spiegelverkehrt ist, sich auch wandeln kann, lese ich in dem kleinen Satz: „Die Zeugen legten ihre Kleider zu Füßen eines jungen Mannes nieder, der Saulus hieß“ – und der dann zum Paulus wurde! Seine Geschichte kennen Sie, und sie spielt sich jenseits des Spiegels ab.

Noch einmal: Weihnachten spiegelverkehrt

Das Evangelium ist dem Leben gegenüber an dieser Stelle wirklich ehrlich: Zum Advent, zur Heiligen Nacht und zum Ersten Weihnachtstag gehört – wenn auch in der Form eine Spiegels – der Zweite Weihnachtstag; zum göttlich geborenen und behüteten Leben gehört auch das Leben, das vergeht und sogar gewaltsam genommen und an Gott zurückgegeben wird. Dasselbe wiederholt sich in den Weihnachtstagen noch einmal im Fest der Heiligen Familie und in deren Flucht nach Ägypten im Zusammenhang mit dem Kindermord in Bethlehem; all das hat seinen Platz in der Weihnachtsgeschichte – einmal in der gottgewollten Form, und dann in der spiegelverkehrten Weise.

So kann man auch am Fest des hl. Stephanus einander ein frohes Weihnachten wünschen, wenn man sich auf der richtigen Seite des Spiegels befindet. Denen und all dem auf der spiegelverkehrten Seite von Weihnachten kann man nur das wünschen, was auf der Packung unseres Weihnachtsspieles steht: EXIT – und dass es dann ein Einmalspiel bleibe.

Amen.

 

P.S.: Ich danke meinem Neffen Thomas und seiner Frau Julia für den Impuls, der mich verstehen lässt, warum die Inhalte und Lesungen an den Weihnachtstagen so unterschiedlich sind.

Köln, 25.12.2020
Harald Klein