20. Sonntag im Jahreskreis – Die Not herausschreien

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„Wahrt das Recht und übt Gerechtigkeit…“

Jesaja hat gut reden. Das Recht wahren, und Gerechtigkeit üben! Dann, wenn ich gut drauf bin, mag das gehen. Dann ist „das Recht wahren“ und „Gerechtigkeit üben“ mehr Frucht als Wurzel eines gelingenden Lebens. Aber was, wenn die Umstände sich ändern? Wenn ich selbst in Anfechtungen stecke, seien sie eher „in mir“, seien sie eher „um mich herum“, eher innerlich oder eher äußerlich? Wahrscheinlich habe Sie eine Ahnung davon, wie schwer es sein kann, das Recht(e) zu (be-)wahren und (sich) in Gerechtigkeit zu üben, wenn in Ihnen oder um Sie herum Ihre Welt ins Wanken kommt. Egal, wohin Sie schauen, der Sinn dessen, was Sie tun, oder auch der Sinn dessen, für das, für die sie gelebt haben, entzieht sich Ihnen.

Die Not der kanaanäischen Frau

In dieser Haltung sehe ich die kanaanäische Frau vor mir, die sich klagend an Jesus wendet: „Hab Erbarmen mit mir, Du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.“ Um sie herum, in ihrer Familie, bricht es zusammen, und sie selbst, anders: in ihr, bricht es zusammen. Was ist in dieser Situation das Rechte? Was heißt hier und jetzt für sie: „Übe Gerechtigkeit!“ Jesus lässt sie stehen, und die Jünger befürchten: „Schick sie fort, denn sie schreit hinter uns her!“ Es mag sein, dass ich da uneins mit den Jüngern bin, aber mir scheint, dass in diesem „hinter Jesus her schreien“ die Frau genau das Richtige tut: das Recht wahren und Gerechtigkeit üben. Sie konfrontiert Jesus und die Jünger mit ihrer Geschichte, mit ihrer Not, mit ihrer Sorge, aber auch mit ihrer Hoffnung. In der eben noch heilen Welt der Jünger mit „ihrem“ Jesus hat das keinen Platz.

Um den eigenen Platz wissen

Mich fasziniert immer wieder der dann folgende Dialog. Jesus sagt ihr eindeutig, dass er mit ihr, der Kanaanäerin, nichts zu tun habe, er sei zu den verlorenen (!) Schafen des Hauses Israel (!) gesandt, denen dürfe man das Brot nicht den Kindern wegnehmen, um es den kleinen Hunden vorzuwerfen. Die Frau lässt sich auf die Bildsprache Jesu ein: „Ja, Herr! Aber selbst die kleinen Hunde essen von den Brotkrumen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“

Versuchen Sie einmal, diese Antwort zu deuten. Bezeichnet sich die Frau und ihre Tochter als „kleinen Hund“? Geht es um eine Verhältnisbestimmung der „Kinder Israels“ zu den „Hunden Kanaans“? Spielt sie auf „ein bisschen Frieden“ oder Heil an, das ihr zuteilwerden könne? Was ist das für eine Antwort?

Ich weiß es nicht! Was ich weiß, was ich sehe, ist, dass sie ihren Platz einnimmt. Du bist „der Sohn Davids“, von dem ich Heil für meine Tochter – und damit auch für mich – erhoffe. Ich bin diejenige, die bittet, die sich klein macht, die in ihrer Not nicht mehr weiterweiß, als sie mit Dir zu teilen oder sie hinter Dir her zu rufen, zu schreien. Davon lasse ich nicht ab, in der Hoffnung, dass Du meine Not wendest, dass Du mir wieder Sinn eröffnest in dem, was ich tue, mit denen, mit denen ich lebe. Kurz: Ich lasse nicht locker!

Die Wende

Und dann die Kehrtwende im Handeln und in den Worten Jesu: „Frau, Dein Glaube ist groß. Es soll geschehen, wie Du willst.“ Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.

Begonnen habe ich mit: Jesaja hat gut reden. Das Recht wahren, und Gerechtigkeit üben! Dann, wenn ich gut drauf bin, mag das gehen. Dann ist „das Recht wahren“ und „Gerechtigkeit üben“ mehr Frucht als Wurzel eines gelingenden Lebens. Aber was, wenn die Umstände sich ändern? Wenn ich selbst in Anfechtungen stecke, seien sie eher „in mir“, seien sie eher „um mich herum“, eher innerlich oder eher äußerlich? Was dann? Vom heutigen Evangelium her scheint mir wichtig, mit einer Realitätsüberprüfung zu beginnen: Was ist geschehen? Mit wem bin ich wie da? Was bricht zusammen, und was steht noch? Auf wen darf ich begründet bauen? Wem darf ich meine Not anvertrauen? Was ist momentan der notwendige erste Schritt, und wo soll es hingehen? Und danach kann ich nach der Rolle des Gebetes fragen. Traue ich mich, zu Jesus zu gehen und ihm meine Not hinzuhalten, gegebenenfalls sie ihm hinterherzuschreien? Was ist meine Haltung ich gegenüber? Wie trete ich vor ihn hin? Und wo trete ich vor ihn hin? Und dann: Traue ich ihm, dass er eine „Veränderung zu einem Umfassenderen hin“ für mich bereithält?

Es kann zu einer Sisyphosarbeit werden, dieser Weg zu Jesus. Verena Kast, Schweizer Psychologin (*1943) schreibt: „Zur Sisyphosarbeit scheint gewisse Arbeit dann zu werden, wenn wir zu viel wollen, wenn wir zu sehr dem Absoluten verpflichtet sind und das Endliche unserer Existenz zu wenig akzeptieren können. In der Dynamik von großen Erwartungen, die dann enttäuscht werden, erleben wir die Qualen des Sisyphos. Zur Sisyphosarbeit wird eine gewisse Arbeit aber auch dann, wenn wir, einem linearen Denken verpflichtet, meinen, zu einem Ende kommen zu müssen mit Arbeiten, die nie zu Ende sein können, wenn es uns nicht gelingt, sie zyklisch zu denken.“[1]

Der erste Schritt ist die Realitätsüberprüfung. Der zweite Schritt liebt im Hingehen zu Jesus und im Vertrauen darauf, das er im Blick auf meine Not eine „Veränderung zum Umfassenderen“ für mich bereithält. Der dritte Schritt liegt in der Akzeptanz, dass es nicht um lineares, sondern um zyklisches Leben geht. Die Zeit der Not, der Besessenheit, der Angst und der Krankheit wird wiederkommen – schlimm genug. Aber die Haltung der kanaanäischen Frau stärt sie – und mich – im Durchstehen dieses Zyklus.

Um es auf den Punkt zu bringen: Bei einem Spieleabend gestern im Kreis der Gefährten wurde alle Mitspielenden gefragt, was ihr „Lebensmotto“ sein könnte. Da Lebensmotto von Menschen, die in diesem zyklischen Modell zu Hause sind, könnt sein: „Trotzdem! Und: Trotz dem!“

Amen.

Köln, 16.08.2020
Harald Klein

[1] Kast, Verena (2019): Sisyphos. Altes loslassen und neue Wege gehen, Ostfildern, 27.