Das streitende Volk
Hat das jüdische Volk im Abschnitt des Evangeliums des letzten Sonntags nur gemurrt darüber, dass Jesus sagte, er sei das „Brot, das vom Himmel herabgekommen“ ist, so legt sowohl Jesus als auch das Volk im heutigen Evangelium noch eine Schippe drauf. Jesus wiederholt und ergänzt: „Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.“ Und der Evangelist Johannes ergänzt, dass sich die Juden stritten und sagten: „Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben?“
Ins Heute geschaut wüsste ich nicht viele Menschen, die murren oder streiten, wenn es um die Frage nach der Bedeutung und der Wandlung von Brot und Wein im Gottesdienst geht – nur hier, nur im Gottesdienst ist der Ort, wo diese Brotrede auf ihre Aussage und ihre wörtliche Auslegung hin befragt wird. Ich wage zu behaupten, dass der Empfang von Brot und Wein für einen christlichen Alltag nicht mehr die Rolle spielt, die er schon einmal hatte. Dass diese Rede vielleicht eher unter dem Aspekt der „Hingabe“ zu verstehen ist, darauf ist weder das Volk damals noch die Theologie heute einstimmig im Klaren.
Eigentlich schade! Aber vielleicht ist ja auch anderes an die Stelle der Hingabe und des Genießen Gottes und getreten.
Nochmal: Die drei Schulen Gottes
Du erinnerst Dich an das dreigliedrige Schulsystem Gottes, von dem ich letzten Sonntag schrieb? Also jetzt: „Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben?“ oder anders: „Was meint Hingabe?“
Der Streit des Volkes, ob oder wie Jesus sein Fleisch gab und gibt, gehört in die „Religions“-Schule. Hier mögen sich die Theologen nach wie vor die Köpfe zerbrechen und argumentieren für oder gegen eine Lehre der „Wandlung“ von Wesen und Substanz, für oder gegen eine „Transsubstantiation“, für eine „symbolische“ oder doch für eine „real-symbolische“ Veränderung. Entscheidend scheint mir: Daran haben nur die Theologen Freude, bösartig könnte man sagen, nur Theologen „ergötzen“ sich daran. Und „Hingabe“ – da ist man schnell beim Kreuz. Von der Freude des Sich-Gebens weiß die „Religions“-Schule nicht viel.
Die Art und Weise, wie Jesu Fleisch (und Blut) vom „Volk“ recht empfangen werden kann, lehrt die „Frömmigkeits“-Schule. Riten und Liturgien werden hier erfunden, Abläufe und Wege des Einübens, damit diese Gabe „würdig“ empfangen wird.[1] An das Nüchternheitsgebot sei erinnert, aber auch daran, dass vor nicht so langer Zeit jeder Versprecher oder jedes Vergessen im Ritus zum „Ungültigkeit“ und zum „Wiederholen“ des Ritus führte. Auch hier gilt: man kann sich „ergötzen“ an schönen Liturgien. Schau Dir nur die Vielfalt der „Modelle“ für Gottesdienste für die Theologen an, oder – das passt eher in die Karnevalszeit – die liturgischen Handbücher, aus denen hervorgeht, wer was wann „darf“ und wem warum was „vorbehalten“ ist. Die Pastoraltheologie hat mit Blick auf das „Volk“ den Begriff des „Kulturchristen“ geprägt, dem die Kultur des aus dem Christlichen erwachsenen vielleicht näher ist als Christus selbst. Hingabe geschieht, aber feiert man sich hier nicht eher selbst als Christus?
Was beiden Schulen – zur Zeit Jesu wie heute – fehlt, ist die Frage nach dem Genuss des Brotes bzw. des Fleisches, das Jesus gibt, nach dem Genuss der Hingabe und des Hingebens. Wenn ich es mir recht bedenke, hat weder die „Religions“-Schule noch die „Frömmigkeits“-Schule einen Ort für den Genuss Gottes! Die erste genießt das Sich-Einigen, das Sich-Verständigen, genießt die Klarheit der Begriffe (was noch nicht Klarheit des Begreifens heißt!). Die andere freut sich am „schönen Gottesdienst“, an einer „schönen gesungenen Messe“ oder der „schönen Trauung“, und all diese Schönheit kann völlig neben oder ohne Gott Bestand haben.
Es ist immer „Anderes“, muss „Anderes“ sein, wenn wir „Gott“ genießen. Das kann nur in der „Spiritualität“-Schule gelehrt und gelernt werden, weil sie nicht festhält an Begriffen, Riten oder Abläufen, sondern sich ganz und gar einlässt auf das weltliche Geschehen, auf Begegnungen, Ereignisse, Beziehungen. Wie in der letzten Predigt schon geschrieben: es geht Christus und es geht den Christen um die Gestaltung der Welt, nicht um die Gestaltung einer Schule.
Zum Frieden kommen
Im Brief vom 16.07.1944 an seinen Freund Eberhard Bethge hat Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis heraus diesen Gedanken meisterlich formuliert. „Wir können nicht redlich sein ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen – ‚etsi deus non daretur‘[2] – Und eben dies erkennen wir – vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigen Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen, als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“[3]
Zum Frieden kommen wir als Kirche sicher nicht in den „Religions“– und/oder den „Frömmigkeits“– schulen. In beiden Schulen gehen die Blicke eher zueinander, aufeinander, bleiben im (geschlossenen) Kreis der Theologen und der Kirchenmänner (und -frauen). Frieden kann erwachsen, im Kleinen wie im Großen, wenn der Blick gemeinsam nach außen gerichtet wird, auf und in die Welt. So, als ob es Gott nicht gäbe – weil wir an seiner Statt dastehen. „Vor Gott und mit Gott leben wir ohne Gott“ – das ist keine Klage Bonhoeffers (man könnte es als Vorwurf der Gottlosigkeit verstehen). „Vor Gott und mit Gott leben wir ohne Gott“ – das ist die Bereitschaft, an seiner Statt dazustehen, um wie Jesus unser Fleisch, unser Herzblut, uns selbst an und in diese Welt hineinzugeben, hinzugeben. In der geglückten Hingabe, aber auch im Glück, in dem sich mir jemand oder etwas hingibt, erkenne ich Gott, genieße ich ihn.
Ich wollte Dir hier auch „vom Genuss Gottes“ erzählen. Ich bin davon überzeugt, dass Gott es genießt, wenn Menschen fragen, womit sie der Gesellschaft – und auch sich selbst – dienen können. Ich bin davon überzeugt, dass Gott es genießt, wenn Menschen ihren Gottesdienst mit ihren Ideen und ihrer Kreativität mitten in der Welt leben, selbst wenn sie aus der Kirche ausgetreten sind. Ich bin davon überzeugt, dass Gott es genießt, wenn Menschen ihn als „Arbeitshypothese“ aufgeben und anstelle seiner seine Geschöpfe und seine Schöpfung zu lieben versuchen – sich den Geschöpfen und der Schöpfung ganz hingeben, und ihn dann in beidem finden.
Amen.
Köln, 13.08.2024
Harald Klein
[1] Natürlich gilt vice versa: wie Fleisch und Blut würdig ausgeteilt wir – dazu gibt es diözesan unterschiedlich gleich drei Samstas-Ganztagesveranstaltungen!
[2] lat.: als ob/wie wenn es Gott nicht gäbe.
[3] Bonhoeffer, Dietrich (1983): Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge, Gütersloh, 12. Aufl., 177f.