22. Sonntag im Jahreskreis – An dem einen Tisch, in dem einen Leib

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Wenn Religion zur Moral verkommt…

Es soll nicht altklug oder besserwisserisch sein, aber nach dem Meditieren eines Evangeliums wie dem von heute ist es unabdingbar, sich klarzumachen, um was es geht. Jesus stellt hier keine Ethik auf – Ethik ist eine philosophisch-wissenschaftliche Disziplin, die das sittliche Verhalten des Menschen und dessen Begründung zum Gegenstand hat. Jesus erinnert auch nicht an das Ethos seines Volkes – unter Ethos wird die Summe der allgemeingültigen Verhaltensweisen eines Landes, eines Volkes, einer Community oder einer Kultur verstanden. Bleibt die Vermutung, Jesus appelliere an die Moral derer, die ihm zuhören – Moral meint die Verhaltensweisen, die Aktionen und Reaktionen des individuellen Menschen, die sich i.d.R. am Ethos orientiert und (mindestens individual-) ethischnachvollziehbar begründet werden kann.

Das Evangelium vom Tage – der Hinweis auf den untersten Platz, den man bei einer Hochzeit einnehmen soll, zu der man eingeladen ist – moralisch zu verstehen, vergällt mir den Sonntag. Überhaupt; Jesus als Lehrer von Moral, von Sitten und Gebräuchen, die Kirche als Stifterin eines spezifisch christlichen Ethos und die Religion mit ihren Lehren als Grundlage einer universalen Ethik sind mir zutiefst zuwider und fremd. Religion und Frömmigkeit können ethische Erkenntnisse, das Ethos einer Community und die Moral des Einzelnen oder in einer Gruppe begleiten und stärken, aber nicht begründen. Soll mir einer mal erklären, was eine christliche Ethik sei! Ethik ist und bleibt zuerst die Aufgabe der menschlichen und reifen Vernunft.

» Ethische Autonomie meint Selbstbestimmung in materiellen, kulturellen und institutionellen Belangen, das heißt im Hinblick auf Beruf, Partnerschaft und Familie, ebenso wie in Fragen des Wohnorts, des Glaubens oder der politischen Orientierung; in Fragen der Bildung ebenso wie in Fragen der Kleidung oder des ästhetischen Geschmacks. «
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 40.

Selbstkontrolle vs. autonomer Selbstregulierung

Bleibt die Frage, wie es gelingen kann, einen Satz wie „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ so zu deuten, dass er dem Leben, dass er meinem Leben dient. Denn: Religion – das Festschreiben von Gesetzen und Geboten – und Frömmigkeit – das rituelle Umsetzen oder das praktische Ein-Üben und Aus-Leben dieser Gesetze und Gebote, entspringen allemal zuerst einer Fremd-Bestimmung; Religion und Frömmigkeit bauen auf eine Selbstkontrolle derer, die dieser Religion angehören. Und Selbstkontrolle lebt aus der Orientierung an anderen: Was muss ich tun, um anerkannt zu werden, vor anderen gut dazustehen, gelobt und gemocht zu werden? In den Bildern des Evangeliums ist der „Gastgeber“ der, der diese Rolle übernimmt. An ihm, nicht an sich selbst, an seinen Maßstäben und Werthaltungen, orientiert sich der, der zur Hochzeit eingeladen ist.

Die Lösung liegt für mich in der spirituellen Lesart des Evangeliums[1]. Spiritualität fragt, anders als Religion und Frömmigkeit, nach einem Geist, aus dem heraus ich mein Leben gestalten will; sie ist dialogisch i.S.v. ich kann (ethisch verantwortet) antworten auf Fragen, warum ich so und nicht anders handle, lebe, liebe (also meine eigene Moral aufstelle) bzw. sie sucht Antworten auf Fragen, die sich in den Begegnungen, in Gesellschaft, in der Wirtschaft, der Kultur und der Politik auftun; und sie ist auf das Humanum, auf ein Mehr an Menschlichkeit und Menschwerdung ausgerichtet. Sofern sie Maß nimmt am Leben, an der Botschaft und am Geschick Jesu, ist sie christliche Spiritualität – aber man kann sie sicher auch anders attribuieren.

In dieser Form einer spirituellen Lesart des Evangeliums hat Selbstkontrolle für mich keinen Platz. An ihre Stelle tritt die autonome Selbstregulierung. Liegt beim ersten Begriff der Akzent auf der „Kontrolle“, so liegt er beim zweiten Begriff auf „Selbst“. Hier weiß der, der eingeladen ist, um sich und um sein „Selbst“, um alles, was ihn ausmacht und zu ihm gehört – im Vergleich zum „Ich“, das eher gemacht als geworden, eher geplant als gewachsen ist. Das „Ich“ erwächst dem Verstand, dem Wunsch zum Überleben und zum überlegenen Stand im Kreis der anderen; das „Selbst“ erwächst all dem, was in mir ist und zu mir gehört, dem Wunsch zum Leben und zum Mitleben und zum Stand in mir selbst. Das „Ich“ ist „gemacht“, das „Selbst“ ist „gewachsen“.

Im Klartext des Evangeliums: Wenn ich zur Hochzeit (jetzt mit langem „o“) des Lebens eingeladen bin, habe ich jede Form von Selbstkontrolle satt; ich will sie nicht, ihr Ziel ist in den Worten Jesu schließlich das „mich selbst erhöhen“. Ich habe es aber auch genauso satt, mich an den unteren Platz zu setzten, um dann darauf zu hoffen, vom Gastgeber meines Lebens „erhöht zu werden“; das wäre wirklich erniedrigend. Im Sinne einer autonomen Selbstregulierung nehme ich wahr, wer und was jetzt und hier, in diesem Moment in mir und um mich herum ist – und handle selbst, also autonom aus meinem Selbst heraus. Ich meine, so müsste es gehen.

» Dreißig Fremde, dreißig verschiedene Gründe, hier zu sein. In unseren Unterschieden haben wir jedoch eine gemeinsame Absicht: zu lernen, für uns selbst zu sorgen und für unser Leben am Leben zu sein, tief in unser eigenes Leben zu schauen und dies gemeinsam zu tun. «
Santorelli, Saki - Professor für Präventiv- und Verhaltensmedizin der University of Massachusetts, Direktor des Center for Mindfulness in Medecine, Health Care and Societ

Sich selbst erniedrigen – oder: Auch mit den Armen an einem Tisch

Was noch fehlt, ist der Hinweis Jesu an den Gastgeber der Hochzeit – Sie sehen, die Rollen wechseln! Es geht um mich als Gastgeber des Festes meines Lebens. Aus der Religion, aus der Frömmigkeit ist im Christentum der Blick auf und die Sorge um die Menschen gewachsen, die Jesus hier neben Freunde und Bekannte, Verwandte und reichen Nachbarn stellt, und die zum Fest eingeladen werden sollen: Arme, Krüppel, Lahme und Blinde. Ein Beweis dafür, dass in Caritas und Diakonie auch Religion und Frömmigkeit Größen sind, die Gutes zu tun vermögen!

Spirituell wird dieser Hinweis Jesu dann, wenn ich diese Hochzeit des Lebens als innere Größe, als inneres Geschehen verstehe. In meinem Leib, in meiner Seele, in meinem Herzen kommen da nicht nur die „Größen des Ich“ zusammen an den einen Tisch – Freunde, Brüder, Verwandte, reiche Nachbarn, all das und all die, mit denen ich mich sehen lassen kann: Auch das „Kleine und Arme meines Selbst“,  das „Verkrüppelte meines Lebens, das Lahme und das Blinde in mir hat dann einen Ort, sitzt mit am Tisch – ich lasse das Erhöhen meines „Ich“, das mir beim „Strahlen“ helfen soll; ich beuge mich nieder zu dem, erniedrige mich auf das hin, was ich lieber im Dunkel ließe, was ich nicht beachten möchte – was zu meinem Selbst gehört, und hoffe, im Kontakt damit zu einer Integration all dessen zu kommen, was sowieso zu mir gehört.

Hier geht es um Teilpersönlichkeiten in mir, um Mitglieder meines Inneren Teams – es gilt, ihre Botschaft für mich zu hören, in der sicheren Annahme, dass sie etwas Gutes für mich und meine Entwicklung mit-teilen wollen. Das Sich-erniedrigen heißt dann in dieser Weise, sich der eigenen ganzen Wirklichkeit zu stellen, so weit und so gut ich sie überblicke; es heißt aufzuhören, selbst etwas aus mir machen zu wollen und zuzulassen, zu jemandem zu werden, nicht aus Selbstkontrolle heraus, sondern aus autonomer, eigenständiger Selbstregulierung in Kontakt mit allem, was in mir ist, wirkt, lebt.

Es geht nicht um Ethik, Ethos oder Moral. Es geht um eine Form, das Leben selbst zu regulieren mit den Kräften aller und von allen, die in mir wirken. Ich bin mir sicher, dass die, die diese Form der Ich-Erhöhung lassen und diese Form der Selbst- Erniedrigung wagen, in sich die Stimme des Gastgebers ihres Lebens hören werden, die ihnen zusagt: „Mein Freund, rück weiter hinauf!“

Amen.

Köln 26.08.2022
Harald Klein

 

[1] Im Sinne der Resonanzt  heorie von Hartmut Rosa kann eine Resonanzbeziehung zu sich selbst am ehesten im Felde der Spiritualität, weniger in den Feldern der Religion und der Frömmigkeit geschehen, da Religion und Frömmigkeit eher Selbstkontrolle, Spiritualität jedoch autonome Selbstregulierung evoziert: „Resonanz […] bezeichnet ein wechselseitiges Antwortverhältnis, bei dem die Subjekte sich nicht nur berühren lassen, sondern ihrerseits zugleich zu berühren, das heißt handelnd Welt zu erreichen vermögen.“ (Rosa, Hartmut >2016>: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 270.