Ein Klassiker
„Warum halten sich Deine Jünger nicht an die Überlieferungen der Alten, sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen?“ Das ist das erste und von den gebildeten Schriftgelehrten und den frommen Pharisäern an Jesus gerichtete Wort im heutigen Evangelium, dem vier hinführende Verse vorangestellt sind.
Letztlich geht es um das, was der Benediktinerabt Christian Schütz OSB unter „Frömmigkeit“ versteht[1]. Jede „Religion“ – jede „Lehre“ also über das Göttliche und über die Inhalte des Glaubens, die geglaubt werden[2] – entwickelt Rituale, entwickelt ein Brauchtum, hält Lieder und Feiern vor, mit deren Hilfe sich die dieser Religion Zugehörigen identifizieren, und zwar nach innen (im Sinne von „Zugehörigkeit“) wie nach außen (im Sinne von „Abgrenzung“). Beschreibt die „Religion“ den Glauben, der geglaubt wird, so beschreibt die „Frömmigkeit“ den Glauben, wie er geglaubt wird[3].
In Mk 7,4 schreibt der Evangelist Markus in den das heutige Evangelium erklärenden Versen: „Diese Noch viele andere überlieferten Vorschriften halten sie ein, wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln.“ Vorschriften, seien sie in Worte oder nur in Gewohnheiten und Abläufe gefasst, entscheiden über Zugehörigkeiten oder über Aus- und Abgrenzung. Das gilt für den Sport, das gilt für Menschen in verschiedenen Ständen und ihre Kleidung, das gilt für Landstriche, Völker, Nationen, Religionen.
Der Klassiker, um den es schon bei Jesus und in seiner Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und den Pharisäern geht, dreht sich um die Frage: Wie und woran erkennst Du meine und ich Deine Zugehörigkeit zu dem, den Jesus Abba, Vater nennt? Oder eine Stufe tiefer: Wie und woran erkennst Du Deine und ich meine Zugehörigkeit zu diesem Abba, Vater, Gott?
Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht,
nicht der Mensch für den Sabbat.
Deshalb ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat. «
Satzungen von Menschen vs. Gottes Gebot?
Es ist die klassische Auseinandersetzung, die sich zu einer Never-ending-Story entwickelt hat: Gilt das geschriebene Wort z.B. der Heiligen Schrift, oder gilt die vernunftgemäße Adaption dieses Wortes, die Umsetzung in die Fragen der Gegenwart? Gilt die Moral, die in der Geschichte einer Religion gelehrt wird, oder gilt der Aufruf zur Moral, um die Gegenwart zu gestalten? Sind die Gebote und Verbote, die Markus in seinem heutigen Evangelium als Beispiele anbietet, Gottes Gebot, oder haben sie sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte etabliert als Satzungen von Menschen? Ist der Hinweis auf Reinlichkeit, in einer Stammesreligion entstanden, wortwörtlich zu nehmen, oder evoziert „Reinlichkeit“ in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht andere Verhaltensweisen als das „Abspülen von Bechern, Krügen und Kessel“, etwa, wenn Du die „Reinlichkeit“ der Motive und der Handlungen in den Blick nimmst.
Jesus dreht diesen Religions- und diesen Frömmigkeitsbegriff auf links: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz ist aber weit weg von mir. Vergeblich verehren sie mich; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet Euch an die Überlieferung von Menschen“ (Mk 7,6b-8). Jesus nennt die, die ihn angehen, „Heuchler“ – und macht damit klar, wes Geistes Kind sie sind.
Spiritualität: alltagstauglich – dialogisch – auf das Humanum ausgerichtet – ggf. christlich
P. Christian Schütz bietet in seinem Artikel über „Spiritualität“ eben diesen Begriff der Spiritualität zur Unterscheidung und zur Klärung dessen an, um was es Jesus in seiner wirklich harschen Antwort an die Schriftgelehrten und die Pharisäer geht. „Religion“ (der Glaube, der geglaubt wird) und „Frömmigkeit“ (der Glaube, wie er geglaubt wird) sind letztlich „Satzungen von Menschen“, vielleicht sogar im besten Sinne formuliert, und eine Hilfe, Gott „mit den Lippen zu ehren“ – aber das Herz sei weit weg von ihm (vgl. Mk 6b).
Du erinnerst Dich vielleicht an das Evangelium des vergangenen Sonntags und an einen der Haupt-Sätze Jesu darin: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch nützt nichts“ (Joh 6,63). So wundert es nicht, dass P. Christian Schütz OSB „Religion“ und „Frömmigkeit“ von „Spiritualität“ abgrenzt und damit dem Wirken des Geistes Tor und Tür öffnet.
Mit Hilfe dreier Kennzeichen definiert er den Begriff der „Spiritualität“. Es geht um einen Geist, aus dem heraus Du Dein Leben gestaltest. Dieser Geist ist (1) alltagstauglich, d.h., er bestimmt nicht nur die gottesdienstlichen Versammlungen, sondern alle Vollzüge und Begegnungen Deines Lebens; er ist (2) dialogisch, d.h. zum einen, Du kannst auf Anfragen anderer hin vernünftig (!) und nachvollziehbar (!) erklären, warum und wie Du aus diesem Geist heraus handelst, und es heißt zum anderen, dass Dir dieser Geist helfen kann, auf die Fragen, die Dir aus Deiner Welt entgegenkommen, eine Antwort zu finden; schließlich ist er (3) auf ein Humanum, auf ein Wachsen im Menschsein ausgerichtet, auf ein Wachstum an innerer Freiheit und an Liebes- und Leidensfähigkeit. Insofern sich dieser Begriff von Spiritualität an Jesus Christus ausrichtet, ist sie christliche Spiritualität, eine neben vielen anderen möglichen Spiritualitäten.
Aufruf zur Spiritualität! Abkehr von Religion und Frömmigkeit?
Im Evangelium ruft Jesus nach dem Schlagabtausch mit den Schriftgelehrten und Pharisäern die „Leute“ zu sich – die „Laien“, würde es in der Sprache der Religion und der Frömmigkeit heißen. Mit ihnen kann er die Konsequenzen seiner Kritik leichter und offener besprechen – ihnen fällt nicht so schnell die Welt zusammen, wenn „Religion“ und „Frömmigkeit“ der Schriftgelehrten und der Pharisäer in harter Weise kritisiert werden. Und die Leute im Blick habend, Jesus ruft zur Spiritualität und ihrer Alltagstauglichkeit, ihrer Dialogfähigkeit und ihres Zieles, dem Wachstum des freien Menschen auf:
„Dann rief Jesus die Leute wieder zu sich und sagte: Hört mir alle zu und begreift, was ich sage! Nichts, was von außen in den Menschen kommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, macht ihn unrein. Denn von innen , aus dem Herzen des Menschen, kommen die bösen Gedanken, Unzucht, Diebstahl, Mord, Ehebruch, Habgier, Bosheit, Hinterlist, Ausschweifung, Neid, Lästerung, Hochmut und Unvernunft. All dieses Böse kommt von innen und macht den Menschen unrein“ (Mk 7,14-23).
Nicht die Asche bewahren, sondern das Feuer weitergeben
Du ahnst, was das in den Schriftgelehrten und Pharisäern damals (und heute) auszulösen vermag?! Du ahnst auch, welche Freiheit im Begriff der „Spiritualität“ – verglichen mit „Religion“ und „Frömmigkeit“ – steckt?! Das kann sogar Angst machen, und das erklärt mir die vielen evangelikalen Strömungen[4] oder die Aufgeregtheit mancher Christen, die Bibel müsse in ihren Aussagen, vor allem in ihren Geboten und Verboten wörtlich genommen und verstanden bzw. ausgelegt werden.
Die Bibel, auch die Evangelien und die Erzählung über Jesus sind gewachsene und gewordene Texte, und dieses Wachsen und Werden geht meines Erachtens gegenwärtig nicht über die „Religion“ (im Sinne dessen, was geglaubt wird) oder über die „Frömmigkeit“ (im Sinne dessen, wie es geglaubt wird), sondern über die „Spiritualität“ (im Sinne eines alltagstauglichen, dialogischen, auf da Humanum ausgerichteten Lebens) weiter.
Es gibt einen Satz, der Benjamin Franklin, Gustav Mahler und Johannes XXIII. zugeschrieben wird, und die Recherche ergab, dass er viel älter ist und von Thomas Morus (1478-1535) stammt. Nicht nur, dass Thomas Morus als Lordkanzler den geforderten Treueeid auf die königliche Oberhoheit der englischen Kirche verweigerte („dialogisch“), nicht nur, dass er der Verfasser des wohl ersten utopischen Romans ist, in „Utopia“ die Gesellschaft, wie er sie erlebt, kritisiert und ein positives Gegenbild entwirft („auf das Humanum ausgerichtet“), nicht nur, dass er sich sein Gewissen als höchste Entscheidungsinstanz in allen Belangen, auch in den königlichen und kirchlichen gesetzt hat („alltagstauglich“) und dabei ein Leben verlor. Die Betonung des Gewissens sowohl als Mann der Politik als auch als Mann der Kirche und seine Haltung aus dem Gewissen heraus zeigt, wie sich eine gegenwärtige „Spiritualität“ gegenüber einer überlieferten„Religion“ und einer traditionellen „Frömmigkeit“ verhält. Sie nimmt als christliche „Spiritualität“ Maß an Jesus Christus. Zusammenfassend sagt Thomas Morus: „Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“
Und dieses „Weitergeben der Flamme“ meint weder – wie im heutigen Evangelium – ein „traditionelles“ Waschen der Hände vor dem Essen oder das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln in einer vorgegebenen Weise, noch meint es ein „frommes“ Beibehalten alter Riten oder überkommenen Formen, die auf „modern“ getrimmt werden – wie Messen mit Mountainbike[5] oder – noch eine Never-ending-Story – die Predigten von Pastoralen Mitarbeiter*innen oder Gemeindeangehörigen, natürlich vor dem Evangelium, denn danach ist sie ja den Geweihten vorbehalten, man könnte natürlich noch die Diskussion um die Frauenordination nennen, und vieles mehr.
All das ist ein Dialog zwischen „Religion“ und „Frömmigkeit“, auf die Fragen der Gegenwart und die Fragen (in) der Welt eher „Geist-los“. Um diesem Gerangel von „Religion“ und „Frömmigkeit“ zu entkommen, kann ich Dir nur raten und empfehlen, eine „Spiritualität“ zu wagen, und zwar „von unten“ her zu wagen, alltagstauglich, dialogisch, auf das Humanum ausgerichtet, und, wenn Du magst, christlich, also an Jesus Christus orientiert.
Und ich kann Dir versichern: das hilft!
Amen.
Köln, 31.08.2024
Harald Klein
[1] Im Folgenden beziehe ich mich auf Schütz, Christian (1988): Christliche Spiritualität, in (ders.) (Hrsg.): Praktisches Lexikon zur Spiritualität, Freiburg, 1170-1179.
[2] Der theologische Fachbegriff dafür lautet „fides quae creditur“ = Der Glaube, der geglaubt wird; ihn findest Du nicht in der Bibel, sondern im Katechismus!
[3] Der theologische Fachbegriff dafür lautet „fides qua creditur“ = Der Glaube, wie er geglaubt wird; ihn findest Du nicht in der Bibel, sondern im Gotteslob, im Gesang- und Gebetbuch!
[4] Zum unsäglichen Zusammenhang zwischen evangelikaler Religion (!) und Politik in den USA vgl. [online] https://www.zdf.de/arte/arte/page-video-artede-armageddon—evangelikale-und-die-letzte-schlacht-100.html [31.08.2024]
[5] Vgl. [online] https://katholisch.de/artikel/55668-messe-mit-mountainbike-erntet-millionen-klicks-im-internet [31.08.2024]