22. Sonntag im Jahreskreis – Ums Leben bringen

  • Auf Links gedreht - Das Evangelium
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Die Zumutung des Kreuzes

Sie kennen das sicher aus den Familienfesten, aus dem Kolleginnen- und Kollegenkreis, aus anderen vertrauten wie unvertrauten Kreisen, in denen Sie hörend und redend dabei sind: Es gibt Worte, Phrasen, Themen, da sträuben sich Ihnen die Haare, da schalten Sie ab, oft genug aus Selbstschutz, da  würden Sie am liebsten gehen. Ich glaube fest, dass es den Jüngern mit Jesus so ging, wenn er von seinem Kreuz spricht. „Das darf nicht mit Dir geschehen!“ – dem Petrus geht es im Evangelium so, und ich kann ihn gut verstehen. Ich will es nicht hören. Jedes Wort von jedem Kreuz, von dem mir erzählt wird, bereitet mir Unbehagen. Und maximal sage ich mir als erste Reaktion: Es ist Dein Kreuz, entscheide Du. Und in Sprachlosigkeit und Lähmung falle ich dann, wenn das Kreuz mich trifft, mich antrifft mitten im Leben.

Das Wort vom Kreuz ist schon eine Zumutung. Jesus mutet es sich zu, und er mutet es den Seinen zu: „Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Und weiter heißt es: „Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ Das ist nicht doch nicht der Jesus, den ich kenne, der mir – und Ihnen – das Kreuz zumutet, der von Selbstverleugnung redet und von der Gefahr, sein Leben zu verlieren. Aber er sagt es, zumindest durch den Mund der Evangelisten, und es bleibt nichts anderes, als mich zu diesem Wort zu verhalten, wenn ich hinter ihm hergehen will, wenn ich ihm nachfolgen will.

„Kreuz“ ist das, was mich ums Leben bringt

Wir leben nicht mehr in der Antike, wenn heute das Bildwort vom Kreuz, vom Kreuzweg genutzt wird, endet das nicht mit der Kreuzigung mit ausgestreckten Armen, angenagelten Händen und Füßen und endet das nicht mehr mit dem Erstickungstod. Trotzdem möchte ich „Kreuz“ übersetzen mit „allem, was mich ums Leben bringt“. Fassen Sie den Begriff des Lebens bitte weit. Es muss gar nicht der physische Tod am Ende stehen. Ein paar Beispiele aus meiner Erlebenswelt – ergänzen Sie sie mit dem, was Sie erleben: Mobbing in der Schule kann Kinder ums Leben bringen, sie in ihrer Lebendigkeit einschränken. Die Sorge um die alten Eltern, um dem Arbeitsplatz, die Angst, in Zeiten von Corona, sich den Virus zu fangen. Das Gefühl, nicht zu genügen, den eigenen Ansprüchen oder den vermuteten Ansprüchen anderer gegenüber. Die Scham über Geschehnisse der eigenen Vergangenheit, die sich bis heute und gerade heute auswirken. Die Angst, Abweisung zu erfahren oder Zugehörigkeit zu verlieren. Die Trauer, den Kontakt zur Familie, zum Partner zur Partnerin verloren zu haben – all das und viel mehr hat die Kraft, mich ums Leben zu bringen, mich um mein Leben zu bringen oder mir das Leben zu nehmen.

In all den Beispielen, die ich Ihnen geschrieben habe, gilt das, was auch in den Beispielen gilt, die Sie anfügen werden: Sie dürfen vor dem Kreuz haltmachen, aber dann müssen Sie weitergehen, mit dem Kreuz. Um atmen, kriechen, sich durchschleppen zu können, um nicht zu kapitulieren, müssen Sie das Kreuz auf sich nehmen. Es gibt nur eine scheinbare Wahl zwischen Flucht und Kreuzweg – auch wenn Sie fließen, bleibt das Kreuz, bleibt das, was Sie ums Leben bringen kann.

Stationen des „Kreuzweges“ (1): Die Opferrolle verlassen

Ein hilfreiches Instrument ist es, die Opferrolle zu verlassen, in die Sie das Kreuz schnell versetzen kann. Johann Sebastian Bach hat eine Solokantate ursprünglich für Sopran, dann für Bass mit dem Titel „Ich will den Kreuzstab gerne tragen“ (BWV 56). Das „gerne“ kann hier keine Freude, keine Lust meinen. Aber es steht für „Bereitschaft“, für einen „Willen zum Aufbruch“. Auch wenn es mir, wenn es Ihnen als Leben geht, habe ich, haben Sie die Möglichkeit zur Gestaltung. Hilfreich sind Gefährtinnen und Gefährten am Weg, die beim Tragen helfen, die zu Ihnen, hinter Ihnen, bei Ihnen stehen, aber gehen, den Weg gestalten muss ich, müssen Sie. Die Sozialpädagogik spricht davon, dass Sie Autor bzw. Autorin Ihres Lebens sind – und bleiben.

Stationen des „Kreuzweges“ (2): Verantwortung übernehmen

Das Kreuz kann mich ums Leben bringen – und damit das nicht geschieht, muss ich Verantwortung für mein Leben übernehmen. Auch hier gilt das Wort von der Unterstützung durch Gefährtinnen und Gefährten, aber letztverantwortlich für mein Leben bin ich, letztverantwortlich für Ihr Leben sind Sie. All die oben angeführten Situationen lösen sich nicht von selbst auf. Es gilt, ein persönliches „Ja“ zum Kreuz zu sagen, zu dem, was die Kraft hat, Sie ums Leben zu bringen. Nicht dass Sie sich für ein Leben in der Nachfolge ein Kreuz aussuchen müssen – aber das Kreuz wird Sie mitten in Ihrem Leben finden und antreffen, oder es erwächst als Folge aus dem, was bisher in Ihrem Leben war. Fliehen vor dem Kreuz hilft nicht, es bleibt, es geht mit Ihnen. Annehmen und gestalten ist angesagt. Um es mit dem Titel der Bach-Kantate zu umschreiben: Das „Ich will“und die Bereitschaft zum Tragen des Kreuzes steht jetzt hier im Blickpunkt.

Stationen des „Kreuzweges“ (3): Zukunftsszenarien entwickeln

Von Ludwig van Beethoven ist Wort überliefert, Kreuze im Leben seien wir Kreuze in der Musik – sie erhöhten. Mir klingt das zu idealistisch, zu schönfärberisch. Eines stimmt allemal: Wenn ein Kreuz in mein, in Ihr Leben fällt, und es ist ein echtes Kreuz, dass geht es mir, geht es Ihnen ans Leben. Das, was bisher war, ist „aufgehoben“, hat Gültigkeit verloren, bleibt als Vergangenheit bewahrt, hat eine andere, vielleicht höhere Stufe im Erleben und Bewerten erreicht. Und um nicht ums Leben gebracht zu werden, müssen Sie neue Bilder Ihrer Zukunft entwerfen. Zum dritten Mal gilt der Wert der Gefährtinnen und Gefährten, und die Forderung, dass es Ihre eigenen Szenarien sein müssen. Wie werden Sie mit dem Kreuz auf Ihren Schultern so leben, dass Sie nicht ums Leben gebracht werden, dass Sie aufrecht stehen und den Blick weit und frei nach vorn werfen können? Vielleicht meint Beethoven genau das mit seinem Wort vom erhöhenden Kreuz für das Leben. Allemal kann ich so das Wert von der Selbstverleugnung verstehen – das alte Selbst (besser: das alte Ich) funktioniert nicht mehr, kommt ums Leben durch das Kreuz – aber mein neues „Ich“, das vielleicht mehr mein „Selbst“ , das mir zugedachte „Wesen“ ist, weil es das Kreuz akzeptiert, dieses „Selbst“, dieses „Wesen“ kann jetzt erwachsen. Aus dem Titel der Bach-Kantate gehört das Wort vom „tragen“ hierhin. Sie bleiben nicht stehen, Sie gehen los, mit dem geschulterten, getragenen Kreuz in Ihrem Leben, hinein in eine neue Zukunft.

Wie mag meine, wie mag Ihre Reise in die Zukunft und in der Zukunft aussehen – angesichts des Kreuzes, dessen Wucht Sie um Ihr Leben zu bringen vermag? Ich wünschte, ich könnte mir, ich könnte Ihnen Freude machen an der Entfaltung neuer Zukunftsszenarien für mein, für Ihr Leben

„Denn wer sein Leben retten will…“

Opferrolle verlassen – Verantwortung übernehmen – Zukunftsstrategien entwerfen: Auf den ersten Blick sieht das aus wie das Handeln derer, die ihr Leben retten wollen, und die haben in den Worten Jesu schlechte Karten. Ich glaube nicht, dass dieser „erste Blick“ stimmt. Die Opferrolle verlassen, Verantwortung übernehmen und Zukunftsstrategien entwerfen hat etwas zu tun mit einem bisherigen Leben, das hinter sich gelassen wird, weil eine Veränderung – hier und heute, weil ein Kreuz – dieses bisherige Leben absolut in Frage stellt. Die Opferrolle verlassen, Verantwortung übernehmen und Zukunftsstrategien entwerfen – das ist der Weg, ein altes Leben aufzugehen, abzugeben, zu „verlieren“, wie es Jesus im Evangelium sagt, mit dem Ziel, ein Leben zu finden, dass das Kreuz integriert, in sich aufnimmt und ihm Bestand zu geben, um eben gerade nicht durch das Kreuz ums Leben, ums neue und gefundene Leben gebracht zu werden.

Amen.

Köln, 30.08.2020
Harald Klein