Wächter müssen wach sein – an anderer statt
Noch immer habe ich mit viel Freude an meiner literarischen Begegnung mit Roger Willemsen im Herzen und im Gedächtnis. Nach elf Jahren Fernsehmoderation und anderen Formen des Wirkens in der Öffentlichkeit ist er aus all dem ausgestiegen und hat für zweieinhalb Jahre eine Aufgabe als Nachtwächter in Bonn übernommen, mit der Begründung, in diesem Beruf könne er neben den nächtlichen Rundgängen zwölf Stunden lesen und dabei noch Geld verdienen.[1]
Da geht es dem Wächter über das Haus Israel schon ganz anders. Der Prophet Ezechiel stellt es so dar, dass der von Gott bestellte Wächter zum Schuldigen zu gehen und mit Blick auf Gott und sein Gebot den Schuldigen auf dessen Schuld anzusprechen habe. Wenn der Schuldige darauf umkehre, hätten beide – Wächter und Schuldiger – ihre Leben gewonnen. Kehre der Schuldige trotz Warnung nicht um, habe zwar der mahnende Wächter sein Leben gewonnen, der trotzige Schuldige habe es aber verwirkt. Und ganz besonders: wenn der Wächter den Schuldigen erst gar nicht anspreche und der Schuldige deswegen sein Leben verwirke, wird Gott „sein Blut aus deiner Hand zurückfordern“ (Ez 33,8). Dann sind beide reif! Von zwölf Stunden Lesen in der Nacht wie beim (Nacht-) Wächter in Bonn ist hier keine Rede!
Es lohnt, über das Bild des „Wächters“ oder der „Wächterin“ nachzudenken.
Drei Institutionen des Überwachens
Da mag es die Institution des Staates geben, die eine Wächterfunktion exekutiv (= praktisch ausführend) und judikativ (= entsprechend der Gesetzeslage) vergibt, sich sogar selbst unter die Judikative zu stellen vermag.
Da mag es die Institution der Kirche geben, deren Wächterfunktion vielleicht dann am klarsten zu sein scheint, wenn es um die Fragen der „Lehre“ geht: Wer nicht glaubt, der ist ausgeschlossen („anathema sit“ heißt das im Kirchenlatein). Mir scheint, dass dieses „Wächteramt“ jetzt vielleicht nur in den Ländern (und bei den Menschen), in denen die Epoche der Aufklärung philosophisch keine Rolle spielte, noch von Bedeutung ist. Schlimm genug, dass auch in unseren Breiten sowohl in den Institutionen des Staates als auch in der Institution der Kirche diese Form des Wächtertums eine so bedrohliche Präsens zu entwickeln vermag.
Da gibt die die vielen Institutionen des alltäglichen Lebens geben, deren Geschäftsbedingungen, Selbstbilder, Organigramme Zeugnis davon zu geben versuchen, was die spezifische Aufgabe ist, wie man versucht, sie zu lösen, und wer dafür geradezustehen hat. Man nennt den Einblick da hinein „Transparenz“ – ob sie aber für die tatsächliche Umsetzung hinreichend oder ausschlaggebend ist, wage ich zu bezweifeln.
Wie dem auch sei: „Wächter“ stehen i.d.R. immer im Dienst eines anderen, dem sie zum einen Rechenschaft von ihrem Tun (und ihren „Entdeckungen“) zu geben haben. Und es ist zum anderen ihnen ein irgendwie verfasster „Regelkatalog“ vorgegeben, anhand dessen sie die, die zu „bewachen“ sind, beurteilt werden. Wo und wenn andere „schlafen“, ist es die Aufgabe der Wächterinnen und Wächter, wach zu sein – auf die Vorgänge um sie herum zu schauen, mit der Brille der „Regelkataloge“ derer, für die sie gehen. Sie haben wach zu sein – an anderer statt. Bei Ezechiel nehmen die Wächter Maß am Wort Gottes, und nicht grundlos erinnert Paulus in der 2. Lesung des heutigen Sonntages die Christens in Rom an die Zehn Gebote.
Eins noch: Die spannende Frage des römischen Satirikers und Dichters Juvenal muss hier unbedingt auch genannt werden, kann aber hier nicht bedacht werden: „Quis custodiet ipsos custodes?“ – „Wer bewacht die Wächter?“
» Wer bewacht die Wächter? «
Aufwachen und aufgeweckt sein – sich selbst gegenüber
Die Zehn Gebote, das Gesetz Israels, die Kirchengebote – im religiösen Sinne – und das Grundgesetz und die vielen straf-, zivil- und sonstwie rechtlichen Gesetze – im bürgerlichen Sinne zeigen: Wenn es um das Wächteramt „nach außen“ geht, braucht es zum einen Wächter*innen und zum anderen formulierte, allgemeingültige Grundlagen bzw. Grundlagentexte, seien es Gesetze, seien es Geschäftsbedingungen. Wie aber sieht es aus, wenn Sie einen Wächter, eine Wächterin für Ihr eigenes, für Ihr inneres Leben bestellen? Und nochmal zugespitzt: Wenn Sie selbst diese Wächterfunktion übernehmen sollen – wollen – müssen? Was oder wen „überwachen“ Sie da? Was nehmen Sie wahr – und halten es auch (noch) für wahr?
Die Antwort auf diese Frage überlasse ich völlig Ihnen! Nur zwei Merkpunkte möchte ich in Erinnerung holen:
(1) Es braucht ein Aufwachen aus dem Traum, alles sei in Ordnung, schon immer so gewesen, müsse immer so weitergehen, können sich nicht mehr ändern, zumindest Sie könnten da nichts mehr ändern (usw. – es gibt so viele Selbstberuhigungen und Fremdbeschuldigungen wie es Menschen gibt). Ein mir sehr lieb gewordener Satz ist: „Du musst nicht alles glauben, was Du denkst!“ Sich selbst Wächter oder Wächterin sein kann allemal heißen, in Frage zu stellen, was ich wann, wie und warum so deute! Und wenn es um ein spirituelles Leben geht, auf das hin Sie die Antworten auf dieses was, wie, wann und warum suchen, kann es m.E. nur um die Frage nach dem Leben, nach einem erfüllteren und tieferen Leben gehen – die Ahnung davon kommt dem Gesetzeskatalog nach, der beim „Überwachen“ hilft!
(2) Die Ansage Gottes an den Wächter über das Haus Israel behält seine Gültigkeit: Wenn Sie sich selbst „mahnen“ und Ihr Leben auf ein Mehr, ein Magis an Leben ändern, haben Sie beide – ihr inneres und ihr äußeres Leben – gewonnen. Wenn Sie diese Mahnung spüren, sie aber nicht umsetzen, leidet Ihr äußeres Leben nach außen, Ihr inneres Leben nach Innen. Wenn Sie aber diese Mahnung an Ihr Innerstes verweigern, werden Sie beide verlieren, werden Sie beide sich verlieren.
Man könnte gut aufhören mit der Mahnung oder dem Hinweis: „Vergiss nicht, Dir Wächter*in zu sein.“ Und das ist deutlich mehr als „Pass gut auf Dich auf!“
In Christi Namen versammelt – wach Christi Gegenwart von der Gegenwart anderer unterscheiden
Wenn da nicht diese Frage der römisches Satirikers Juvenal wäre: „Quis custodiet ipsos custodes?“ – „Wer bewacht die Wächter?“ Historisch wäre es sicher ein Leichtes, hier im Umkreis des Christentums auf das Lehramt und die Hierarchie hinzuweisen. „Inquisition“ ist das lateinische Wort für „Untersuchung“, und sie war die bekannteste Institution, die Schafe von den Böcken zu unterscheiden, und gewaltsam zu trennen. Schnell schwappte sie über die Kreise der Kleriker und der Orden hinaus, man überwachte nicht mehr nur die Wächter, sondern auch die, denen die Wächter Hirten sein sollten (übrigens auch so ein Bild aus Ezechiel), und die „Herde“ selbst. Eine Kirche, die keine Angst macht, war keine Kirche – so galt es damals, und auch hier überlasse ich Ihnen das Urteil für heute.
Dem steht so was von diametral gegenüber die Aussage Jesu in Mt 18,20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ „In seinem Namen“ setzt keine Weihe oder keinen Titel, sondern „nur“ seinen Geist voraus.
Davon bin ich überzeugt: Wo Menschen im Geist Jesu (sei es bewusst oder unbewusst) zusammenkommen, wo sie ihr Leben auf den Tisch legen, im Kleinen wie im Großen, wo sie miteinander diese Formen, Weisen Fragen des Lebens anschauen, wo sie miteinander gehen mit den Fragen und auf Antworten zu, wo sie so Leben teilen, da sind sie füreinander und miteinander Wächterinnen und Wächter im allerbesten Sinne des Wortes. Und da findet Juvenal eine Antwort: „Wer bewacht die Wächter?“ Sie bewachen sich gegenseitig, haben im Blick, was, wie wann und warumsie das suchen, was ihnen ein Magis, ein Mehr an Leben verheißt – und dürfen sich gegenseitig liebevoll und lächelnd, vielleicht auch mal mahnend darauf hinweisen: „Du musst nicht alles glauben, was du denkst.“ Auch dafür kann das Wort „Kirche“ benutzt werden.
Amen.
Köln, 09.09.2023
Harald Klein
[1] Vgl. [online] https://www.die-bonn.de/zeitschrift/12006/willemsen05_01.htm [09.09.2023¶