Ein Baustein in Sachen Wahrnehmung
Die ersten Zeilen eines Podcast über Achtsamkeit beginnen mit „Eine Studie zeigt, dass, wer Podcasts hört, klüger ist.“ Im ersten Moment stutze ich, dann höre ich es gern und nehme die Botschaft schnell und gerne an. Schließlich höre ich Podcasts, und da lasse ich mir doch gerne sagen, dass ich klüger bin.
Dann die Ernüchterung. Es ist ein kluger, dem eigentlichen Inhalt des Podcast vorgeschalteter Werbespot der Telekom, eher ein mahnender Spot. So funktionieren Fake News, heißt es; man hört gern, was man hören möchte, und mit Freude und Aufmerksamkeit, was das eine Selbst- und Weltbild unterstützt. Vieles andere hält man sich vom Leib, es findet nicht durch die Sinne zum Geist, zur Seele, ins Leben. Keine Chance.
Ignatianisch gesprochen geht es um Unterscheidung. „Von welcher Studie ist die Rede,“ könnte ich im Beispiel fragen, oder auch „Klüger als wer?“ bzw. „Auch klug genug?“ Die Unterscheidung setzt allerdings eine Haltung voraus, in der eine Selbsthinterfragung und eine Zustimmung zu einem Horizont, der größer ist als der gegenwärtig meinige, eingeübt und willkommen sind. „Prüft alles, das Gute behaltet“, sagt Paulus in 1 Thes 5,21. Oder um die Worte Jesu aus dem Evangelium zu zitieren: „Öffne Dich!“
Offen sein
In meiner Westerwälder Heimat gibt es eine Redewendung, die hierher passt: „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht!“ Eine zweite besagt: „Der/Die ist wie ein Gulli: offen für jeden Dreck.“ In der ländlichen Region wurde (oder wird?) „Offenheit“ eher negativ konnotiert. Wie will ein Mensch Profil gewinnen, wenn er/sie für alles offen ist?
Das Verrufene der Offenheit gegenüber kommt sicher eher daher, dass zum einen auf einmal Menschen mit anderen Werten, Gewohnheiten und Lebensformen neben mir leben, vielleicht entdecke ich sie sogar in mir, als Teil meiner selbst. Ein weiterer Grund könnte darin liegen, dass viele den Ruf zur Offenheit als Anspruch, nicht als Angebot hören. Als Anspruch: Jetzt muss ich auch noch deren Werte, deren Gewohnheiten und deren Lebensformen übernehmen, um den Anschluss nicht zu verlieren und um dazuzugehören. Als Angebot: Jetzt habe ich die Möglichkeit, mehr über deren Werte, Gewohnheiten, Lebensformen zu erfahren.
Offen sein heißt, sich nicht einzumauern, sondern ein Tor in meiner Lebenswelt offen zu halten, durch das andere hinein- und ich hinauskann, um zu lernen, und um, ja, wie es im Podcast hieß, klüger zu werden. Offen sein heißt im Bild des Evangeliums, offene Ohren zu haben und hinzuhören, wo es sich lohnt, oder wo es notwendig ist. Offen sein heißt im richtigen Moment richtig zu reden oder das Richtige zu sagen – und natürlich auch, im richtigen Moment zu schweigen.
Auch gilt die Forderung der klugen Unterscheidung. „Prüft alles“, sagt Paulus, und behaltet das Gute.“ Das Alles des Paulus ist nicht nur das, was in meinem Zelt, meiner Lagerstätte, meinem Haus oder Dorf oder meiner inneren Festung zu finden ist. Es nimmt – beinahe als Folge einer Globalisierung – auch das in den Blick, was vor den Mauern ist. Das, was innerhalb ihrer ist, wird oft als Komfortzone beschrieben, entscheidend ist jetzt das, was vor der Komfortzone, in der sogenannten Panikzone ist, in der ich mich nicht auskennen, in der mir Gewohnheiten, Abläufe, Rituale fehlen.
Jesus führt den, der taub war und nur stammelnd redete, aus der Menge weg, legt im die Finger in die Ohren, berührt seine Zunge mit seinem Speichel, blickt zum Himmel auf, seufzt und sagt dann: Effata!, das heißt: Öffne Dich! – Kann das für den Menschen ohne Gehör und Sprache nicht ein Auszug aus der Komfortzone der Menge in die Panik- und Lernzone der Individualität sein?
weint die Erde
Blut
Sterne
lächeln in meine Augen.
Kommen Kinder zu mir
mit vielfarbnen Fragen
Geht zu Sokrates
antworte ich
Die Vergangenheit
hat mich gedichtet
ich habe
die Zukunft geerbt
Mein Atem heißt
jetzt «
Sich öffnen
Offen zu sein ist das Ergebnis. Der Weg dorthin, der Prozess, den Du durchlaufen musst, ist das „Sich-öffnen“. Wenn Du das Evangelium des heutigen Sonntags meditiert, damit betest, könntest Du das „Effata“ Jesu an Dich gerichtet hören, und wenn Du den mutigen Schritt zu einem „Ja, ich will – mich öffnen“ sagen kannst, folgt die Frage – an Jesus, an Dich selbst, an die um Dich herum: „Wie kann ich das machen?“ Wie kann der Prozess des Mich-öffnens auf eine Haltung des Offen-seins hin von mir gestaltet werden?
Ich kann Dir nur einige Hinweise aus meinem eigenen Erleben anbieten. Schau, ob sie Dir helfen (i.S.v. „Prüfe alles…“) Der erste ist der Hinweis auf eine Grundhaltung. Hier geht es um die Alternative „Einmauern“ oder „Hinausgehen“, geistlich, geistig, körperlich! Es gibt im Ersten Testament ein kleines Gebet in 1 Chr 4,10, das als „Gebet des Jabez“ bekannt ist: „Möchtest Du mich segnen und mein Gebiet erweitern. Möchte Deine Hand mit mir sein, dass Du mich frei machst von Unheil und ich ohne Beschwerden bleibe.“ Und der Text fährt fort: „Und Gott erfüllte eine Bitte.“ Wenn aus der Bitte, der Hoffnung „Mein Gebiet erweitern“ kein Impuls zum Gehen und zum Aufbruch (herrlich doppeldeutiges Wort) kommt, wäre das Gebet umsonst. Wenn Du das „Möchtest Du mein Gebiet erweitern“ der geistlichen Prüfung oder der Meditation, dem Gebet anheimstellst, was geschieht da?
Der zweite Hinweis zielt auf das „Objekt“ des Sich-öffnens“. Das überlasse ich ganz Deiner Fantasie, möchte aber zumindest die „Objekte“ des Mich-öffnens nennen, die mir sofort in den Sinn kommen. Ich kann mich öffnen meiner Lebensgeschichte gegenüber in all ihren Seiten, oder der Beziehung zu mir selbst, oder den Entscheidungen, die anstehen oder die ich vor langem, vor kurzem getroffen habe. Ich kann mich den Begegnungen öffnen, die frisch, die länger oder die lang gelebt sind den Streichholz-Momenten und den Kerzen-Beziehungen. Ach, und was gäbe es noch alles.
Die Kernfrage ist immer: Geborgen in der Komfortzone bleiben oder sich erwartungs- und vertrauensvoll in die Panik- und Lernzone begeben.
Wenn ich die Erwartung und das Vertrauen allein in mich setze, darf ich mich nicht wundern, dass die Panikzone auch Panikzone bleibt. Wenn ich Jesus bitte, mir die Hände aufzulegen – wie es im Evangelium geschrieben ist, – oder wenn ich Menschen, in denen ich mir Jesus nahe weiß, bitte, mit mir in diese Offenheit zu gehen und mich in diese Offenheit zu begleiten – wie es in meinem Leben geschieht, – dann passiert das, was am Ende des heutigen Evangeliums steht: „Sie staunten über alle Maßen und sagten: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen. (Mk 7,37).
Amen.
Freckenhorst, 07.09.2024
Harald Klein