23. Sonntag im Jahreskreis – Wenn „Öffne Dich“ die Lösung ist …

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Es riecht nach Advent

Die erste Lesung heute ist so etwas wie ein „Hinhörer“ – ein „Hingucker“ kann sie ja nicht sein, sie erfüllt aber die gleiche Funktion. „Dann springt der Lahme wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen frohlockt“: Um es gleich zu sagen: Das ist der Lesungstext vom 3. Adventssonntag im Lesejahr A, die Lesung des Sonntags, der „Gaudete“ genannt wird, „Freut euch“, weil die Menschwerdung Gottes so nahe ist. Diese Lesung heute – das klingt wie, oder anders, das riecht sehr nach Advent!

Die Lesung aus Jesaja ist ausgesucht und abgestimmt auf das Evangelium, auf die Heilung eines „Taubstummen“, der nur stammelnd reden kann. Hier führt Jesus das aus, was Jesaja prophezeit: Er scheint gekommen zu sein, um zu retten und zu heilen. Jesus nimmt den, den die anderen brachten, beiseite, von der Menge weg, legt ihm die Finger in die Ohren, berührt die Zunge des Mannes mit Speichel, blickt zum Himmel auf, seufzt und sagt zu dem Gehörlosen: „Effata“, das heißt: „Öffne Dich!“ Sogleich öffnen sich seine Ohren, seine Zunge wird von der Fessel befreit und er kann richtig reden (vgl. Mk 7,33-35).

» Sich selbst in seiner Eigenart zu tragen und zu ertragen, sich selbst in seinen mühsamen Seiten auszuhalten, das wird hier als Sisyphosarbeit bezeichnet. «
Kast, Verena (2019): Sisyphos. Altes loslassen und neue Wege gehen. Ostfildern, 24.

Wenn „Öffne Dich!“ die Lösung ist…

Und jetzt die Preisfrage: Was ist das für ein Advent, nach dem es hier riecht? Merken Sie den Unterschied in der Frage nach der Menschwerdung? Der „Advent“, um den es hier geht ist der Advent des bzw. der Advent für den Gehörlosen; und er, der Kranke, wird „mehr“ Mensch, wird zumindest ganz und heil Mensch. Das ist der erste große „adventliche“ Unterschied: Es geht hier um das Heil des ganz konkreten einzelnen Menschen. Wozu sonst nimmt Jesus ihn beiseite, von der Menge weg?

Und der zweite „adventliche“ Unterschied: Im herkömmlichen Advent singen wir, erwarten wir, dass der Himmelaufgerissen wird und sich öffnet, und dass von dort, von daher die Erlösung kommt. Wenn aber das „Öffne Dich!“ des Ohres, der Sinne, des einzelnen Menschen die Lösung ist, dann ist doch offensichtlich der Zustand seiner Verschlossenheit das Problem! Es geht nicht um den verschlossenen Himmel, sondern um den verschlossenen Menschen.

» Wer das Leben in engen Räumen vorzieht, bekommt gewissermaßen Platzangst, und diese birgt ihre ganz eigenen Schrecken. «
Rowling, J.K. (2017): Was wichtig ist. Vom Nutzen des Scheiterns und der Kraft der Fantasie, Hamburg, 60.

… ist die allgegenwärtige „Verschlossenheit“ das Problem

Verschlossene Ohren können sollen wieder hören können, verschlossene Lippen sollen wieder reden, richtig reden können? Bevor ich über das „Effata“, das „Öffne Dich“ staune, kreise ich in Gedanken und Bildern um die vielfältigen Formen der Verschlossenheit, die dem „Effata“ gegenüberstehen können.

Die Verschlossenheit eines Menschen kann intrinsisch bedingt sein, die Gründe für seine Verschlossenheit liegen dann im Menschen selbst, haben ihren Ursprung in ihm. Das „Er kann nicht richtig reden“ ist ein gutes Bild dafür. Ihm fehlen die Worte, er traut sich nicht, sich einzubringen, wird entweder deswegen überhört, übersehen, oder umgekehrt: weil er übersehen, überhört wird, zieht er sich in sich zurück. Um seinen Selbstwert ist es nicht gut bestellt, und da er sich von anderen zurückzieht, die ihn „aufwerten“ können, bleibt es bei diesem ungesunden Rückzug in sich selbst. Angst, nicht zu genügen, Selbstabwertung und schlimmstenfalls Vereinsamung sind Folgen.

Die Verschlossenheit eines Menschen kann aber auch extrinsisch bedingt sind, die Gründe für seine Verschlossenheit liegen dann außerhalb seiner, haben ihren Ursprung in der Begegnung mit der Um- und Mitwelt. Da können Geschehnisse und Begegnungen einen Menschen schon mal sprachlos machen, auch auf Dauer. Beurteilungen und Verurteilungen führen manchmal in eine andauernde Sprachlosigkeit, und übermächtiges Verhalten anderer führt die eigene Machtlosigkeit vor Augen, das Sich-verschließen und In-sich-einschließen wird zum – zumindest kurzfristigen – Schutzmechanismus.

Die Verschlossenheit, zu der sich ein Mensch sich in einem freien Lebensentwurf entscheidet, weil er sich und die Verschlossenheit ihm genügt, passend für ihn und seine Weise, der Welt und sich zu begegnen, ist, sei hier würdigend genannt, gehört aber in eine andre „Liga“.

» Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu sammeln, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit zu verteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. «
Antoine de Saint-Exupery

Aus der Distanz in die Nähe, aus der Dauer in den Wandel

Hier geht es um ein Leiden an der Verschlossenheit. Wie diesem Leiden begegnen? In diesem Jahr werden die „Grundformen der Angst“, die der Psychoanalytiker Fritz Riemann 1961 zum ersten Mal beschrieben hat, 60 Jahre alt. In einem Koordinatensystem mit den beiden Achsen „Nähe – Distanz“ und „Dauer – Wandel“ beschreibt er vier Persönlichkeitstypen und die Weisen der Grundängste, die sie haben bzw. wie sie mit diesen Grundängsten leben.

Verschlossenheit als eine Grundangst – die sich so nicht bei Riemann findet – kann heißen, sich die Welt und was in ihr im Großen und im Kleinen geschieht, sich die Menschen aus dem engsten und den weitern Kreisen vom Leib zu halten. Man bleibt auf Distanz, zeigt sich distanziert. Vielleicht ist das der Grund, dass Jesus den Gehörlosen und nur Stammelnden beiseite und von der Menge wegnimmt; hier – jenseits der Menge – kann er durchatmen und bekommt Luft. Und gleichzeitig baut Jesus eine Nähe auf, die nur ihm, dem Gehörlosen und nur Stammelnden gilt: Er legt ihm die Finger in die Ohren, berührt die Zunge des Mannes mit Speichel, blickt seufzend zum Himmel auf und sagt zu ihm: „Effata“, das heißt: „Öffne Dich!“.

Das Verrückte an dieser Geschichte: Es heißt „Und sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von der Fessel befreit, und er konnte richtig reden.“ Der Gehörlose und Stammelnde ist in diesem Vorgang ganz passiv! Da geschieht noch nichts aus intrinsischer Motivation, er nimmt nur extrinsisch, in seiner nächsten Nähe, Jesus und sein Tun an ihm wahr. Seine Gehörlosigkeit und sein Stammeln werden ihm (extrinsisch) genommen wie ein alter, steif gewordener Mantel, dahinter kann er sich zwar wieder verstecken, er muss es aber nicht. Er kann sich (intrinsisch)entscheiden, den alten, steif gewordenen Mantel einfach liegen zu lassen.

Was sich intrinsisch verändert hat, was – wenn er will – unwandelbar ist und auf Dauer gilt, ist, dass er, der ehemals Gehörlose und Stammelnde, nun und auf Dauer richtig sprechen kann, eben dann, wenn er will.

» Wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. «
Papst Franziskus (2020): Enzyklika "Fratelli tutti", Nr. 27.

Vom Geruch nach Advent ins Erleben von Weihnachten

Wie gut, dass dem heutigen Evangelium die Lesung aus der Adventszeit vorangeht. Es geht hier wahrhaftig um Menschwerdung und auf ein Mehr an Menschwerdung zu. Da traut sich einer in der Begegnung mit dem Menschgewordenen aus seiner Verschlossenheit in die Offenheit, aus der abweisenden Distanz in eine zugewandte Nähe, aus der Erstarrtheit eines Dauerzustandes in die Bereitschaft, in eine sich wandelnde Welt einzusteigen. Da wird einer mehr Mensch! Das kann Ihnen gelten. Und das kann durch Sie geschehen. Sie glauben es nicht? Bleiben Sie dem gegenüber nicht verschlossen. Lassen Sie sich doch von Jesus sagen: „Effata – Öffne Dich!“

Amen.

Köln 31.08.2021
Harald Klein