24. Sonntag im Jahreskreis – Endlich Leben

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Ein wenig Grammatik

Worte, die auf -lich enden, haben es „in sich“, im wahrsten Sinne des Wortes! Ein Ort, eine Begegnung, ein Mensch ist „gefährlich“, weil im Ort, in der Begegnung, im Menschen eine Gefahr innewohnt oder vermutet wird. Eine Hüttentour oder ein Urlaub im Ausland war „abenteuerlich“, weil beim Wandern oder in den Begegnungen im Ausland manches Abenteuer in der Unterkunft, im Weiterkommen oder anderweitig erfahren wurde. Ein Abend mit Gefährtinnen und Gefährten war „ungewöhnlich“, weil die Gespräche einen besonderen Tiefgang hatten und die Weise des Redens eher ungewohnt waren.

All das gilt auch für das Wörtchen „endlich“ – es richtet sich auf ein erfahrenes Ende aus oder kommt von diesem Ende her. Es drückt Ungeduld über langes Warten aus, oder den Zustand des Ersehnten, der erreicht ist, und meint adjektivisch gebraucht so etwas wie „schließlich“, „am Ende“, „zuletzt“. Die Mathematik kennt den „endlichen“Zahlenraum, im Wartezimmer des Arztes werde ich „endlich“ aufgerufen, ein Streit in der Familie kommt „endlich“ an ein Ende. „Endlich“ geht etwas zu Ende, beginnt etwas Neues.

Endlich leben – temporär verstanden

Es gibt die große Versuchung, die Erfahrung des Lebens, der eigenen Lebendigkeit zu sehr von Komponenten abhängig zu machen, die mich von außen bestimmen wollen. Wenn die Prüfungen geschafft sind, kann ich endlichleben. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wenn die Umbauarbeiten im Haus vorbei sind, wenn der Ruhestand erreicht ist …. Nehmen Sie sich mal Zeit für Ihre eigenen Sätze. In dieser Sichtweise und Erlebensweise hat „Leben“ immer etwas Zukünftiges, ich schaue aus einem irgendwie gefährlichen, abenteuerlichen, ungewöhnlichen Zustand auf ein Ende, das noch nicht erreicht, vielleicht sogar noch nicht einmal im Blick ist. Irgendwann kommt die Zeit, in der ich endlich leben kann, endlich leben werde.

Sie merken in diesem Sprachgebrauch sehr schnell, dass hier irgendwas „endlich“ sein muss – Prüfungen, Auszug der Kinder, Umbauarbeiten im Haus, Arbeitszeit – damit dann hoffentlich und „endlich“ etwas Neues, Verheißungsvolles beginnen kann. Und mal ehrlich: Sie wissen, dass sich dann sicher etwas anderes an die Stelle schiebt, das „endlich“ vorbei sein müsste, oder?

Endlich leben – adjektivisch verstanden

Die zweite Bedeutung des Wörtchens „endlich“ kann da eher helfen! Ich versuche, mein Leben vom Ende her zu denken und zu deuten, und aus dem, was sich zeigt, gestalte ich mein Heute. Im Weisheitsbuch des Jesus Sirach heißt es in der Lesung: „Denk an das Ende, lass ab von der Feindschaft, denk an Untergang und Tod, und bleib den Geboten treu! Denk an die Gebote und grolle dem Nächsten nicht, denk an den Bund des Höchsten und übersieh die Fehler.“

In der römischen Stoa gibt es die ähnliche Weisheit: „Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ – „Was auch immer du tust, tue es klug und bedenke das Ende.“ Zwei Ziele des „Bedenkens“ sind möglich: zum einen das Ende des Tuns selbst, zum anderen das eigene Ende, die Sterblichkeit, den eigenen Tod. Endlich leben, wie ich es verstehe, zielt auf die zweite Deutung. So leben, so entscheiden, so handeln, dass am Ende ein gelungenes, ein heiles Leben steht.

Da bekommt das „Grolle dem Nächsten nicht“ ein großes Gewicht, auch dann, wenn ich mich hier selbst als den mir Nächsten sehe. Um (Achtung: bewusst zweimal!) endlich „endlich“ leben zu können, hilft mir Jesu Wort von der Vergebung, und es hilft mir das Wort von der Rechenschaft, die er mir abverlangt. Nicht, um abzurechnen mit mir und meinem Leben, sondern um einen Schlussstrich zu ziehen und aufzubrechen (auch so ein schönes doppeldeutiges Wort) zu einem Leben, das unter „endlich leben“ eingestuft werden darf.

Es wäre reizvoll, gemeinsam zu sammeln, was dann dieses „endlich leben“ meint. Genießen, wer da ist und was da ist; sich möglichst frei machen von dem, was andere erwarten; die Kraft finden, auch Ohnmacht zu tragen, und immer wieder vom Groll zur Freude gehen oder sich führen lassen. Wahrscheinlich fallen Ihnen andere Bilder und Haltungen ein, gut so.

Ein Bibelzitat zum Schluss

Die Lesung heute beginnt mit dem Vers: „Groll und Zorn, auch diese sind Gräuel, und ein sündiger Mann hält an ihnen fest.“ Es scheint, als setzte „endlich leben“ zuerst ein „endlich loslassen“ voraus. „Endlich leben“ gelingt nur denen, die Groll, Zorn, Unrecht, Sünde hinter sich lassen, loslassen können. Dazu hilft der Auferstandene, und dazu helfen vor allem Menschen, die im Geiste des Auferstandenen Ihren Groll, Ihren Zorn, Ihr Unrecht und Ihre Sünden kennen und es mit Ihnen hinter sich lassen. „Endlich leben“ meint immer den freien Blick und den gemeinsamen Blick nach vorn!

Amen.

 

Köln, 11.09.2020
Harald Klein