Sonntägliche Wohlfühlworte
Für die Religions-Klausur in der Oberstufe ist es gut, sich die Gleichnisse vom Reich Gottes anhand von vier (oder auch fünf) „S“ zu merken: Sämann, Senfkorn, Sauerteig, selbstwachsende Saat. Dasselbe geht mit den Gleichnissen vom „Verlorenen“ – kommen Sie selbst drauf? Das verlorene Schaf, die verlorene Drachme – und vor allem der verlorene Sohn, mittlerweile geht der Blick im Gleichnis eher auf den Barmherzigen Vater. Auf dieses dritte und doch sehr bekannte Gleichnis will ich nicht explizit eingehen, die beiden kurzen vorgeschalteten Gleichnisse geben genug zu denken.
Die Gleichnisse sind „sonntägliche Wohlfühlworte“ – Sie können sich hineinversetzen in die kurzen Gleichnisse von dem einen verlorenen Schaf (aus einer Herde von hundert Schafen) und von der einen verlorenen Drachme (von zehn Drachmen insgesamt). Sie können vielleicht sogar leiblich auskosten, was es heißt, vom guten Hirten auf den Schultern nach Hause zu den anderen Schafen getragen zu werden und die Freude der Nachbarn und Freunde über das Wiederfinden teilen; oder sich – wie die eine verlorene Drachme – vermissen, suchen und dann finden zu lassen und an der Freude aller teilhaben. Mich, mich ganz allein hat jemand im Blick, um mich ganz allein sorgt sich jemand – spirituell gesprochen: Ich bin Gott wichtig. Ich bin in Gottes Augenblick, ja, ich bin Gottes Augenblick.
Aber es geht um mehr! Jesus erzählt die Gleichnisse nicht seinen Jüngern oder denen, die mit ihm gehen und die für ihn gehen. Sein Gegenüber sind die Pharisäer und die Schriftgelehrten, sind die, die ihre gemeinsame Religion „verwalten“. Sie mokieren sich darüber, dass Jesus Sünder aufnimmt und mit ihnen isst. Damit geht das Evangelium los – und das sind nicht nur keine Wohlfühlworte, das sind sogar massive Anschuldigungen. Es geht um Menschen, die in irgendeiner Weise vom Weg abgekommen sind – das wäre in den Tagen des „Synodalen Weges“ eine Überlegung wert, wen wir in der Kirche bzw. wen die Kirche damit alles im Blick hat. Von „Zöllnern“ ist sicher keine Rede mehr, und „Sünder“ hat mittlerweile eine enorme – oder vielleicht umgekehrt: kaum eine – Spannbreite. Für heute mag es genügen, über Verlust und Verlieren, über die vier Weisen des Verlierens nachzudenken.
Die vier Weisen des Verlierens
Lassen Sie uns mit einer beinahe alltäglichen Bagatelle beginnen. Bei der ersten Weise des Verlierens geht es um das „Ich habe etwas verloren“. Ob es das Duschbad aus dem Rucksack während einer Hüttentour ist, oder das Handy, das im Zug blieb, der ausgeliehene Reiseführer, der das kleine Boot bei der Hamburger Hafenrundfahrt zumindest nicht mit mir zusammen verlassen hat – ich habe etwas verloren! Je nach Wert, den dieses Etwas für mich oder für andere hat, ärgere ich mich grün und blau, zurückbekommen geschieht meistens nur schwer, eher gar nicht. Ich fühle mich schuldig am Verlust eines Gegenstandes, manchmal sogar eines mir lieb gewordenen Gegenstandes.
Eugen Drewermann sagt weist im Blick auf die Gleichnisse vom Verlorenen einen Weg auf: „Was gerade ein Schuldiggewordener braucht, ist nicht der erhobene Zeigefinger, sondern die ausgestreckte Hand. Und die zu sein, was Jesu ganzes Anliegen.“[1] Oft bezieht sich mein eigener erhobener Zeigefinger, der sich gegen mich richtet, auf den Zorn, zu wenig achtsam gewesen zu sein – und die ausgestreckte Hand des oder der anderen bietet mir (um im Beispiel zu bleiben) Duschbad, Handy oder Reiseführer an. In der Begegnung finde ich zwar nicht, was ich verloren habe, aber ich finde mich in Dir, mit Dir, durch Dich wieder. Das lohnt – der Ärger und das Schuldgefühl mag gerechtfertigt sein, aber beides lohnt nicht!
Die zweite Weise des Verlierens geht tiefer: Ich habe Dich verloren, Hier ist mir kein Gegenstand, kein „Etwas“, sondern ein Mensch, ein „Du“ verloren gegangen. Das kann ohne eigene Schuld durch den Tod des anderen geschehen, dann steht neben dem Zorn vor allem die Trauer um diesen Menschen. Das kann geschehen, weil eine Beziehung Abbruch erfahren hat – verschuldet durch mich, durch mein Verhalten, durch meine mangelnde Achtsamkeit; oder umgekehrt: verschuldet durch den anderen, durch die andere, vielleicht weil es keine Gemeinsamkeiten, keine gemeinsame und gelebte Gegenwart mehr zwischen uns gibt. Der erhobene Zeigefinger, von dem Drewermann spricht, hilft nicht – und meine ausgestreckte Hand greift ins Leere, hoffend, dass jetzt vielleicht die Hand eines oder einer anderen sie ergreift.
Die dritte Weise des Verlierens macht mich zugleich zum Subjekt und zum Objekt des Verlierens: Ich habe michverloren. Sie merken, dass die Schippe immer schwerer wird. In diesem Verlieren entgleitet mir das, was michausmacht: Überzeugungen, Haltungen, meine Weise des Arbeitens, des Umgangs mit mir und mit andern, mein Lieben, meine Trauer. Dieses Verlieren ist je nach Emotion und Deutung, die Sie dem Verlust Ihres Ich entgegenbringen, entweder sehr angstbesetzt – Ihre Routinen, Ihre Gewohnheiten und die Weisen, wie Sie den Alltag und das Leben drumherum gestalten, sind Ihnen verloren gegangen; oder Sie werten diesen Verlust des Ich als eine Ermöglichung von Neuanfang. Der drohende Zeigefinger oder eine Ahnung von eigener Schuld, die zu diesem Verlust des Ich geführt haben, sind völlig fehl am Platz. Und ob Sie eine Ihnen entgegengestreckte Hand ergreifen, ob Sie anderen die Hand reichen oder ob Sie die Hände erst einmal in den Schoß legen, um sich zu orientieren, will klug abgewogen sein.
Es ist die vierte Weise des Verlierens, der die Gleichnisse Jesu letztlich gelten: Ich bin verloren! Merken Sie, dass es hier nicht mehr um eine Beziehung zwischeneinem Subjekt und einem Objekt bzw. einem zweiten Subjekt geht? Anders als beim „ich habe etwas, Dich, mich verloren“ geht es um das Sein des Einzelnen: „Ich bin verloren!“ Ich überlasse es Ihnen, dafür Bilder, Erfahrungen und Erlebnisse, Emotionen und Begriffe zu finden.
Erinnert sei an Hartmut Rosas Resonanztheorie – alle hier beschriebenen Weisen des Verlierens finden sich auf den drei sog. „Resonanzachsen“ wieder; jede Weise des Verlierens kann als Verlust von Resonanz beschrieben werden.[2]
„Man darf sie niemals verloren geben!“
Der erste Anschein vermittelt es anders in diesen Gleichnissen. Da geht doch „etwas“ verloren, die Drachme oder das Schaf (je nachdem, wie viel Personalität man dem Schaf zuspricht, ist es ein „jemand“); oder ein deutlicher Jemand, der jüngere Sohn dem Vater; oder noch einmal jemand – der jüngere Sohn sich selbst.
Aber angesprochen werden die Schriftgelehrten und Pharisäer, die „Saubermänner“ der Gesetzesreligion. Heute ist der Tag 1 nach der Abstimmungsniederlage des Grundtextes zur katholischen Sexualmoral mit dem Titel „Leben in gelingenden Beziehungen – Liebe leben in Sexualität und Partnerschaft“ beim sog. „Synodalen Weg“ in Frankfurt/Main. Die Sperrminorität der Bischöfe (von 57 abgegebenen Stimmen votieren 31 dafür, 22 dagegen, 9 nahmen an der Abstimmung nicht teil) kickt ein Grundlagenpapier aus der Entscheidung, dem mehr als 80 % der Delegierten zugestimmt haben.[3] Das Festhalten einer Lehre durch „Saubermänner der Lehre“, durch die, die Macht zum Festhalten haben, gibt das Leben der Liebe in anderen und weitern Formen verloren. Da sind Pharisäer und Schriftgelehrte einer (wenn auch nur) Minderheit von heutigen Macht-Habern der Kirche nah und ähnlich.
Die Zahl der Kirchenaustritte zeigt, dass Friedrich Rückerts Gedicht von „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ von 1821, vertont von Gustav Mahler, heute vielleicht heißen könnte: „Ich bin der Kirche abhanden gekommen“, zumindest dieser Erscheinungsweise von Kirche. Da mögen Sie etwas verlieren haben – Riten, Feiertage, Lieder, das Gesangbuch. Da mögen Sie jemanden, vielleicht ganze Gruppen verlieren – eine Gottesdienstgemeinde, Gruppierungen der einen oder anderen Art. Da mögen Sie sich verlieren – Überzeugungen, die ins Wanken kommen, oder das Spüren eines Schmerzes, nicht gesehen und wertgeschätzt zu sein für das, was oder wer Sie sind. Aber Sie sind niemals selbst verloren! Diese vierte Weise des Verlierens durchkreuzt Jesus. Solange Sie es möchten, solange Sie es versuchen und wieder versuchen, stehen Sie vor und neben Christus, steht Christus zu Ihnen. Das sagt er den Schriftgelehrten und Pharisäern im Evangelium im Bild vom guten Hirten, von der suchenden Frau, vom Barmherzigen Vater. Eugen Drewermann schreibt: „Das Verhalten des Hirten […bietet …] das Leitbild, wie Gott wohl möchte, dass man mit Menschen verfahre, die sich ‚verrannt‘ oder ‚vergangen‘ und sich darüber ‚verloren‘ haben. Man darf sie niemals verloren geben, denn Gott tut es auch nicht! Das ist das Erste, das Wichtigste, was das Gleichnis Jesu als Einsicht vermitteln möchte.“[4]
Man muss den Pharisäern und Schriftgelehrten den Rücken zukehren, um Christus zu finden, davon zeugt das Neue Testament. Und Vielleicht ist die Freude der Freunde und Nachbarn des Hirten, die Freude der Freundinnen und Nachbarinnen der suchenden Frau – ganz ohne Zeigefinger, dafür mit ausgestreckter Hand – ein ehrlicheres Zeugnis der Freude Gottes am Ich, das sich verloren glaubte, als das Ringen mit den Geboten und Weisungen der Pharisäer und Schriftgelehrten, dieser machvollen und Macht habenden Minorität.
Amen.
Köln 09.09.2022
Harald Klein
[1] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium, Bilder erinnerter Zukunft, Bd.2, Düsseldorf, 223.
[2] Die drei Formen von Resonanzbeziehungen: (1) horizontale Dimension der Resonanz, die uns in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, aber auch in der Politik begegnen, insofern sie die Welt, die Strukturen und Institutionen zum Sprechen bringt; (2) diagonale Resonanzbeziehungen, in der poetischen Einstellung zur Welt, in der Arbeit, der Bildung, in allen Feldern der Welt, die zum Sprechen und in ein Antwortverhältnis gebracht werden; (3) die vertikale Dimension der Resonanz, in den als responsiv erfahrenen Beziehungen zur Welt, zum Dasein, zum Leben als Ganzem; hier erhält die Welt selbst eine Stimme. Je nach Betrachtungsweise oder nach Verhältnis zu sich selbst kann der Verlust des eigenen Ichs auf jeder der drei Achsen gedeutet werden; vgl. Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2. Aufl., Berlin, 72-75.
[3] Vgl. [online] https://www.katholisch.de/artikel/40919-sexualitaets-text-abgelehnt-wie-geht-es-weiter-mit-dem-synodalen-weg [09.09.2022]
[4] Drewermann, Eugen (2009): Das Lukasevangelium, Bilder erinnerter Zukunft, Bd.2, Düsseldorf, 229f.